1Q84: Buch 1&2
Vorfall, der ganz Japan erschüttert hat, verpassen?, fragte sie sich. Aber es ist ja nicht der einzige. Dass der NHK -Typ den Studenten niedergestochen hat, habe ich auch nicht mitgekriegt. Sehr sonderbar. Mir kann doch nicht gleich zweimal hintereinander etwas so Auffälliges entgangen sein. Ich bin ein systematisch denkender und aufmerksamer Mensch, da kann man sagen, was man will. Die kleinste Abweichung im Millimeterbereich fällt mir auf. Auf mein Gedächtnis kann ich mich hundertprozentig verlassen. Ich habe, ohne einen einzigen Schnitzer zu machen, ein paar Leute ins Jenseits befördert und überlebt. Ich lese jeden Tag gründlich die Zeitung, und mit »gründlich« meine ich, dass mir nichts entgeht.
Natürlich bestimmten die Ereignisse am Motosu-See auch noch mehrere Tage danach die Schlagzeilen. Selbstverteidigungsstreitkräfte und Präfekturpolizei hetzten auf einer groß angelegten Verfolgungsjagd zehn flüchtige Mitglieder der Extremistengruppe durch die Berge, drei Menschen wurden getötet, zwei schwer verletzt, vier (darunter eine Frau) festgenommen. Der Verbleib einer weiteren Person blieb unklar. Sämtliche Zeitungen überboten sich nur so mit Hintergrundberichten. Der Fall des Gebühreneinsammlers, der den Studenten niedergestochen hatte, war völlig an den Rand gedrängt worden.
NHK war darüber zweifellos erleichtert – auch wenn man es dort natürlich nicht zugab. Denn ohne die Schießerei in den Bergen hätten die Massenmedien gewiss lautstarke Vorwürfe gegen die Rundfunkgebühren erhoben oder gegen den Mangel an Organisation bei NHK polemisiert. Anfang jenes Jahres hatte sich die Liberaldemokratische Partei in die Planung einer Sendung von NHK über den Lockheed-Skandal eingemischt und eine Änderung des Inhalts veranlasst. NHK hatte mehrere Politiker der regierenden Partei vor der Sendung ausführlich über deren Inhalt informiert und quasi demütig um die Erlaubnis der Ausstrahlung nachgesucht. Das klang erstaunlich, war aber ein ganz alltäglicher Vorgang. NHK war von staatlichen Zuwendungen abhängig, und in den oberen Etagen des Senders fürchtete man sich vor Vergeltungsmaßnahmen, falls man es sich mit der regierenden Partei verdarb. Dementsprechend lebte die LDP in der Vorstellung, NHK sei nicht mehr als ihr eigenes PR-Organ. Die Enthüllungen über das, was hinter den Kulissen vor sich ging, hatten natürlich bei großen Teilen der Bevölkerung Misstrauen gegenüber der Ausgewogenheit der Programmpolitik von NHK und seiner politischen Neutralität an sich geweckt und Initiativen gegen die Rundfunkgebühren Auftrieb verliehen.
Abgesehen von den Vorfällen am Motosu-See und der Tat des NHK -Kassierers erinnerte sich Aomame an alles, was sich in diesem Zeitraum ereignet hatte. Keine der anderen Nachrichten war ihr entgangen. Sie erinnerte sich auch, welche Artikel sie damals gelesen hatte. Nur von der Schießerei und der Sache mit dem NHK -Angestellten war nichts in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Woran das wohl lag? Selbst wenn mit ihrem Gehirn etwas nicht stimmte, wie wäre es möglich, dass sie gerade diese beiden Artikel überlesen oder vollständig vergessen hätte?
Aomame schloss die Augen und presste die Fingerspitzen gegen ihre Schläfen. Vielleicht gab es so etwas ja doch. Ihr Gehirn könnte eine Art Mechanismus entwickelt haben, mit dem es die Realität umgestaltete. Es wählte bestimmte Ereignisse aus und verhängte sie mit einem schwarzen Tuch. So war es, als habe sie diese nie wahrgenommen oder im Gedächtnis gehabt. Die neuen Waffen und Uniformen bei der Polizei, die gemeinsame Mondbasis von Amerikanern und Sowjets, der NHK -Gebühreneintreiber, der einen Studenten niederstach, die große Schießerei zwischen Extremisten und Spezialeinheiten der Selbstverteidigungskräfte.
Aber in welchem Zusammenhang stand das alles?
Alles Grübeln war vergebens. Es gab keinen Zusammenhang.
Aomames Verstand arbeitete, während sie sich weiter mit dem Kugelschreiber gegen die Vorderzähne klopfte.
Nach einiger Zeit kam ihr plötzlich ein neuer Gedanke. Was, wenn sie in die andere Richtung denken musste? – Vielleicht lag das Problem gar nicht bei ihr selbst, sondern bei ihrer Umgebung. Nicht ihr Bewusstsein und ihr Verstand waren in Unordnung geraten, sondern das Wirken einer unheimlichen äußeren Kraft unterwarf die Welt um sie herum diesen Verschiebungen.
Je länger sie darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien Aomame diese Hypothese. Umso mehr, da sie in keiner
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