1Q84: Buch 1&2
Polizisten gerade erst eingetroffen waren, sodass die Extremisten noch nicht in ihrem Gebrauch geschult waren. Andernfalls wäre die Zahl der Opfer bei Polizei und Selbstverteidigungsstreitkräften erheblich größer gewesen. Die Beamten trugen anfangs nicht einmal kugelsichere Westen, ein Indiz für die naive Einschätzung der Lage sowie die veraltete Ausrüstung der Polizisten. Was jedermann jedoch am meisten erstaunte, war der Umstand, dass es überhaupt noch eine extremistische Kampftruppe gab, die aktiv im Untergrund tätig war. Man hatte geglaubt, das Revolutionsgeschrei, das gegen Ende der sechziger Jahre ertönt war, gehöre längst der Vergangenheit an und die Reste der Radikalenbewegung seien beim sogenannten Asama-Sanso-Zwischenfall im Jahr 1972 zerschlagen worden.
Nachdem Aomame sich alles notiert und die Taschenausgabe der Zeitungen wieder an die Theke gebracht hatte, holte sie sich aus dem Musikregal ein dickes Buch mit dem Titel Komponisten der Welt . Sie kehrte an ihren Tisch zurück und schlug die Seite über Janáček auf.
Leoš Janáček war 1854 in einem Dorf in Mähren geboren und 1928 gestorben. In dem Buch gab es eine Abbildung aus seinen späteren Jahren. Er war nicht kahl; im Gegenteil, sein dichtes weißes Haar bedeckte sein Haupt wie gesundes, wild wachsendes Gras. Seine Kopfform war kaum zu erkennen. Die Sinfonietta hatte er 1926 komponiert. Janáček hatte ein liebloses, unglückliches Eheleben geführt, aber 1917, mit dreiundsechzig Jahren, lernte er die verheiratete Kamila kennen und verliebte sich in sie. Durch seine späte Liebe zu Kamila gewann Janáček, der sich eine Zeit lang vor einem Nachlassen seiner Schaffenskraft gefürchtet hatte, so viel Vitalität und Kreativität zurück, dass er der Welt noch ein Meisterwerk nach dem anderen schenkte.
Als er eines Tages mit Kamila spazieren ging, spielte im Konzertpavillon des Parks eine Militärkapelle. Das Paar blieb stehen, um zuzuhören. Ein plötzliches Glücksgefühl durchströmte Janáček und inspirierte ihn zum ersten Satz der Sinfonietta . Er erinnerte sich einer lebhaften Ekstase und der Empfindung, in seinem Kopf sei etwas geplatzt. Zu jener Zeit war Janáček gerade gebeten worden, eine Bläserfanfare für eine große Sportveranstaltung zu schreiben; diese Fanfare und das Thema, das ihm im Park eingefallen war, wurden eins. Die Sinfonietta – die »kleine Symphonie« – war geboren. Ihr Aufbau ist unkonventionell, und die brillante, festliche Fanfare verbindet sich mit dem für die mitteleuropäische Musikkultur typischen anmutigen Klang der Streicher zu einer einzigartigen Atmosphäre. So stand es in dem Buch.
Sicherheitshalber schrieb Aomame die biographischen Einzelheiten und musikalischen Erläuterungen in ihr Notizheft. Allerdings lieferte ihr das Buch keinen einzigen Hinweis darauf, welche Verbindung oder mögliche Verbindung es zwischen ihr und der Sinfonietta gab. Nachdem sie die Bibliothek verlassen hatte, lief sie ziellos durch die Straßen, über die sich bereits die Dämmerung senkte. Hin und wieder sprach sie mit sich selbst oder schüttelte den Kopf.
Natürlich ist das alles nicht mehr als eine Vermutung, dachte Aomame im Gehen. Immerhin fand sie sie im Augenblick ziemlich überzeugend. Zumindest bis eine überzeugendere Vermutung auftauchte, musste sie sich mit dieser behelfen. Andernfalls würde sie vielleicht ganz aus der Bahn geworfen. Dazu wäre es gut, diesem neuen Zustand der Welt einen passenden Namen zu geben. Um diese Welt von der Welt , in der die Polizei noch mit altmodischen Revolvern herumlief, zu unterscheiden, brauchte sie einen eigenen Namen. Selbst Hunde und Katzen hatten Namen. Also brauchte auch diese verwandelte, neue Welt einen.
1Q84 – so werde ich die neue Welt nennen, entschied Aomame.
Q für question mark – Fragezeichen.
Sie nickte sich im Gehen zustimmend zu.
Ob es mir gefällt oder nicht, dachte sie, ich befinde mich jetzt im Jahr 1Q84. Das mir vertraute Jahr 1984 existiert nicht mehr, wir haben jetzt 1Q84. Die Atmosphäre hat sich verändert, und die Szenerie hat sich verändert. Ich muss mich dieser Welt mit Fragezeichen möglichst rasch anpassen. Wie ein Tier, das es in einen fremden Wald verschlagen hat. Um mich zu schützen und zu überleben, muss ich die Gesetze meiner neuen Umgebung möglichst schnell lernen und ihnen gehorchen.
Aomame betrat ein Schallplattengeschäft in der Nähe des Bahnhofs Jiyugaoka und suchte nach der Sinfonietta . Janáček war kein
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