1Q84: Buch 1&2
wenn die junge Frau Tengo nicht als Angehörigen des anderen Geschlechts wahrnahm, hegte sie offenbar ein gewisses Maß an Sympathie für ihn. Nahm er jedenfalls an. Zumindest machte er keinen unangenehmen Eindruck auf sie. Andernfalls würde sie wohl nicht so lange seine Hand halten, welche Absicht auch immer damit verbunden war.
Die beiden wechselten zu einem Gleis der Ome-Linie und stiegen in den dort wartenden Zug ein. Er war unerwartet voll. Sonntags waren viele ältere Leute in Wanderausrüstung und Familien unterwegs. Tengo und Fukaeri setzten sich nicht, sondern blieben nebeneinander in der Nähe der Tür stehen.
»Ich komme mir vor wie auf einem Ausflug«, sagte Tengo und schaute sich im Waggon um.
»Darf ich die Hand noch halten«, fragte Fukaeri. Auch nachdem sie eingestiegen waren, hatte sie Tengos Hand nicht losgelassen.
»Natürlich darfst du«, sagte Tengo.
Sichtlich beruhigt umklammerte sie weiter seine Hand. Ihre Finger und ihre Handfläche waren unverändert glatt und überhaupt nicht schwitzig. Noch immer schienen sie etwas in ihm zu suchen oder sich von etwas überzeugen zu wollen.
»Sie fürchten sich nicht mehr«, fragte sie ohne fragende Intonation.
»Nein, nicht mehr«, antwortete Tengo. Es war nicht gelogen. Die Panik, die ihn sonntagmorgens regelmäßig anfiel, hatte – vielleicht dadurch, dass Fukaeri seine Hand hielt – ihre Wucht verloren. Er schwitzte nicht, das harte Hämmern seines Herzens blieb ebenso aus wie die Vision, und sein Atem ging wieder leicht und regelmäßig.
»Das ist gut«, sagte Fukaeri mit tonloser Stimme.
Ja, gut, dachte auch Tengo.
Es erfolgte die schnell gesprochene kurze Durchsage, dass der Zug gleich abfahren würde, und die Türen schlossen sich mit einem lauten Rumpeln, als würde ein riesiges urtümliches Tier erwachen und sich schütteln. Langsam, fast unentschlossen, entfernte sich der Zug vom Bahnsteig.
Hand in Hand mit Fukaeri, betrachtete Tengo die Szenerie vor dem Fenster. Anfangs fuhren sie noch durch ganz gewöhnliche Wohngebiete. Doch allmählich ließen sie die flache Landschaft von Musashino hinter sich, und es wurde bergig. Ab Higashi-Ome war die Strecke nur noch eingleisig. Nachdem sie dort in einen Zug mit vier Waggons umgestiegen waren, wurde das Land immer gebirgiger. Aus dieser Gegend pendelte kaum noch jemand ins Stadtzentrum. Die Berghänge hatten noch die welken Farben des Winters, aber dazwischen leuchtete Immergrün auf. Wenn sich an den Haltestellen die Türen öffneten, machte sich der veränderte Geruch der Luft bemerkbar. Auch die Geräusche schienen irgendwie verändert. An die Bahnlinie grenzten nun Felder, und immer mehr Häuser sahen wie bäuerliche Gehöfte aus. Die Anzahl der Nutzfahrzeuge nahm gegenüber den Personenwagen zu. Anscheinend legen wir eine ganz schöne Strecke zurück, dachte Tengo. Wie weit es wohl noch war?
»Keine Sorge, wir sind bald da.« Fukaeri schien seine Gedanken gelesen zu haben.
Tengo nickte wortlos. Allmählich kriege ich das Gefühl, als sei ich unterwegs, um den Eltern meiner Verlobten vorgestellt zu werden, dachte er.
Der Bahnhof, an dem die beiden ausstiegen, hieß Futamatao – »Wegscheide«, ein sonderbarer Name. Tengo erinnerte sich nicht, ihn schon einmal gehört zu haben. An dem kleinen Bahnhof mit dem alten Holzgebäude stiegen außer den beiden noch etwa fünf Personen aus. Niemand stieg ein. Nach Futamatao kam man, um in der frischen Luft der Waldwege spazieren zu gehen. Niemand besuchte Futamatao wegen einer Aufführung von Der Mann von La Mancha , einer besonders wilden Diskothek, eines Aston-Martin-Showrooms oder eines berühmten französischen Restaurants, in dem man Hummergratin servierte. Das sah man schon an den Leuten, die dort ausstiegen.
Der Bahnhofsvorplatz war wie ausgestorben, und es gab nichts, das die Bezeichnung Laden verdient hätte, aber ein Taxi stand bereit. Vermutlich passte es die Ankunftszeit des Zuges ab. Fukaeri klopfte leise ans Fenster. Die Tür ging auf, und sie stieg ein. Sie bedeutete Tengo, ebenfalls einzusteigen. Die Tür schloss sich, Fukaeri teilte dem Fahrer kurz ihr Ziel mit, und dieser nickte.
Die Fahrt im Taxi war nicht sehr lang, aber schwierig. Es ging steil bergauf und bergab, und sie fuhren schmale Feldwege entlang, auf denen man nur mit Mühe aneinander vorbeikam. Es gab massenhaft Kurven und Biegungen. Allerdings dachte der Fahrer nicht daran, an solchen Stellen die Geschwindigkeit zu drosseln, sodass Tengo sich die ganze Zeit
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