1Q84: Buch 1&2
mickrigen Eindruck. Sein Rücken war so gerade, als habe er eine Eisenstange verschluckt, und selbst die Ausrichtung seines Kinns hatte etwas Schneidiges. Er hatte dichte Augenbrauen und trug eine dicke Brille mit pechschwarzem Rahmen, wie geschaffen, um seine Mitmenschen einzuschüchtern. Seine Art, sich zu bewegen, erinnerte an eine in allen Einzelteilen kompakt konstruierte, ausgefeilte Maschine. Keine Bewegung war überflüssig, alle Teile korrespondierten in effektivem Einklang miteinander. Tengo wollte aufstehen, um den Mann zu begrüßen, aber der bedeutete ihm mit einer kurzen Geste, Platz zu behalten. Als Tengo sich der Weisung entsprechend wieder auf seinen Sitz sinken ließ, setzte der andere sich rasch, als befänden sie sich in einem Wettlauf, auf einen der Sessel gegenüber. Der Mann musterte ihn eine Weile, ohne etwas zu sagen. Sein Blick war nicht gerade durchdringend, aber seine Augen glitten flink von Kopf bis Fuß über Tengo hinweg. Mitunter kniff er sie ein wenig zusammen, dann weiteten sie sich wieder. Wie ein Fotograf, der die Brennweite seiner Linse einstellt.
Der Mann trug einen tiefgrünen Pullover über einem weißen Hemd, dazu eine dunkelgraue Wollhose. Die Kleidungsstücke saßen wie angegossen, sahen aber aus, als habe er sie ungefähr zehn Jahre lang jeden Tag angehabt, und waren schon recht abgetragen. Wahrscheinlich war er ein Mensch, der sich nicht viel aus seiner Garderobe machte. Dafür legte er sicher bei anderen auch keinen großen Wert auf Äußerlichkeiten. Sein schütteres Haar betonte seine insgesamt eher längliche Kopfform. Er hatte eingefallene Wangen, ein kantiges Kinn und einen kleinen, fast kindlichen Schmollmund, der nicht so recht zum Gesamteindruck seiner Erscheinung passen wollte. Hier und da schienen beim Rasieren Barthaare stehengeblieben zu sein, was aber vielleicht wegen der Lichtverhältnisse nur so aussah. Das Sonnenlicht der Berge, das durchs Fenster drang, war anders als das Licht, an das Tengo gewöhnt war.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie in solcher Eile habe kommen lassen.« Der Mann sprach mit einer besonderen Intonation. Seine Redeweise war die eines Menschen, der seit langem daran gewöhnt ist, vor Menschenansammlungen unbestimmter Größe zu sprechen. Und zwar logisch und strukturiert. »Da meine Situation es mir augenblicklich nicht erlaubt, mich von hier zu entfernen, blieb mir nichts anderes übrig, als Sie hierherzubemühen.«
Das mache überhaupt nichts, entgegnete Tengo. Er nannte seinen Namen und entschuldigte sich dafür, keine Visitenkarte dabeizuhaben.
»Ich heiße Ebisuno«, sagte der andere, »und habe auch keine Visitenkarte.«
»Ah, Herr Ebisuno«, wiederholte Tengo.
»Alle nennen mich Sensei. Sogar meine eigene Tochter.«
»Wie schreibt sich Ihr Name?«
»Er kommt ziemlich selten vor. Eri, schreib mal die Zeichen!«
Fukaeri nickte. Sie nahm einen Notizblock und schrieb langsam mit Kugelschreiber auf ein weißes Blatt. Es wirkte, als würde sie die Zeichen mit einer Nadel in einen Backstein ritzen.
»Auf Englisch bedeutet er Field of Savages – Feld der Wilden. Früher habe ich mich mit Kulturanthropologie beschäftigt. Durchaus ein passender Name für diese Wissenschaft«, sagte der Sensei, und so etwas wie ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Doch an der Ruhelosigkeit seines Blicks änderte sich nichts. »Allerdings habe ich die Forschung schon lange an den Nagel gehängt. Was ich momentan mache, hat gar nichts damit zu tun. Ich habe mich auf ein anderes wildes Feld begeben.«
Es war wirklich ein seltener Name, aber Tengo erinnerte sich, ihn schon gehört zu haben. Ende der sechziger Jahre hatte es einen bekannten Wissenschaftler namens Ebisuno gegeben. Er hatte mehrere Bücher veröffentlicht, die damals ziemlich geschätzt wurden. Er wusste nichts Genaueres über ihren Inhalt, nur der Autorenname war in einem Winkel seines Gedächtnisses haften geblieben. Aber in letzter Zeit hatte er ihn nicht mehr gehört.
»Ich glaube, ich kenne Ihren Namen«, sagte Tengo vorsichtig.
»Das kann sein«, sagte der Sensei, den Blick in die Ferne gerichtet, als sei von einem Abwesenden die Rede. »Jedenfalls ist das alles sehr lange her.«
Tengo spürte Fukaeris ruhigen Atem neben sich. Sie atmete langsam und tief ein und aus.
»Tengo Kawana«, sagte der Sensei, als würde er den Namen ablesen.
»Genau«, sagte Tengo.
»Sie haben Mathematik studiert und arbeiten jetzt als Lehrer an einer Yobiko in Yoyogi«, sagte der Sensei.
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