1Q84: Buch 1&2
»Nebenher schreiben Sie. Hat mir Eri erzählt. Stimmt doch?«
»Ja, natürlich«, sagte Tengo.
»Sie sehen weder aus wie ein Mathematiklehrer noch wie ein Schriftsteller.«
Tengo lächelte etwas bekümmert. »Das bekomme ich in letzter Zeit immer wieder zu hören. Es muss an meinem Körperbau liegen.«
»Ich habe es in keinem negativen Sinn gemeint«, sagte der Sensei und tippte mit dem Finger an den Steg seiner schwarzen Brille. »Es ist absolut kein Nachteil, nicht nach etwas Bestimmtem auszusehen. So wird man auch in keine Schublade gesteckt.«
»Danke für das Kompliment. Ein Schriftsteller bin ich übrigens noch längst nicht. Ich versuche nur, einen Roman zu schreiben.«
»Sie versuchen es …«
»Das heißt, ich arbeite nach dem Trial-and-error-Prinzip.«
»Ich verstehe«, sagte der Sensei und rieb sich leicht die Hände, als würde er erst jetzt bemerken, wie eiskalt es in dem Zimmer war. »Nach allem, was ich gehört habe, redigieren Sie die Geschichte, die Eri geschrieben hat. Sie wollen, dass sie den Preis für das beste Erstlingswerk bekommt, den diese Literaturzeitschrift vergibt. Und Eri wollen Sie der Öffentlichkeit als die Autorin verkaufen. Habe ich das richtig verstanden?«
Tengo wählte seine Worte mit Bedacht. »Im Grunde trifft das zu. Ein Redakteur des Verlags, Herr Komatsu, hat es so geplant. Ob sein Plan wirklich durchführbar ist, weiß ich nicht. Auch nicht, ob er moralisch vertretbar ist. Meine Aufgabe bestünde lediglich darin, den Text von ›Die Puppe aus Luft‹ zu überarbeiten. Ich bin sozusagen nur der Techniker. Für alle anderen Bereiche ist Herr Komatsu verantwortlich.«
Der Sensei dachte eine Weile konzentriert nach. In der Stille, die nun wieder in den Raum eingekehrt war, konnte man förmlich hören, wie sein Verstand arbeitete. Dann sagte er: »Dieser Herr Komatsu hat also die Sache geplant, und Sie werden die technische Seite übernehmen.«
»So ist es.«
»Ich war immer Wissenschaftler und bin, offen gestanden, nicht unbedingt ein begeisterter Leser von Romanen. Daher kenne ich mich mit den Gepflogenheiten im Literaturbetrieb auch nicht so besonders gut aus, aber für mich klingt das, was Sie da vorhaben, nach einer Art Schwindel. Oder täusche ich mich da etwa?«
»Nein, Sie täuschen sich nicht. Für mich klingt es genauso«, sagte Tengo.
Der Sensei verzog leicht das Gesicht. »Aber Sie wollen trotz moralischer Bedenken von sich aus mitmachen?«
»Von mir aus kann ich nicht sagen, aber mitmachen will ich.«
»Und warum?«
»Das ist eine Frage, die ich mir seit einer Woche immer wieder stelle«, sagte Tengo unverblümt.
Schweigend warteten der Sensei und Fukaeri, dass Tengo fortfuhr.
»Würde ich meiner Vernunft, meinem gesunden Menschenverstand und meinem Instinkt gehorchen, dann ließe ich sofort die Finger von der Sache. Eigentlich bin ich von Natur aus ein sehr rationaler Mensch. Ich finde keinen Geschmack an Glücksspiel und abenteuerlichen Machenschaften. Man könnte mich auch einen Feigling nennen. Doch diesmal konnte ich einfach nicht Nein sagen, obwohl der Vorschlag, den Herr Komatsu mir gemacht hat, ziemlich riskant ist. Und zwar aus dem einzigen Grund, dass ›Die Puppe aus Luft‹ eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich ausübt. Bei jedem anderen Werk hätte ich abgelehnt, ohne zu zögern.«
Der Sensei musterte Tengo neugierig. »Das heißt, Sie haben kein Interesse an dem betrügerischen Teil des Plans, aber großes Interesse, das Werk zu überarbeiten. Habe ich recht?«
»Genau. Mehr als großes Interesse . Wenn ich ›Die Puppe aus Luft‹ nicht überarbeiten darf, dann soll es auch kein anderer tun. Ich würde diese Aufgabe nie jemand anderem überlassen.«
»So, so«, sagte der Sensei. Er machte ein Gesicht, als habe er sich irrtümlich etwas Saures in den Mund gesteckt. »Ich glaube, ich verstehe ungefähr, was Sie empfinden. Und was ist das Ziel dieses Herrn Komatsu? Geld? Oder geht es ihm auch um den Ruhm?«
»Was Herr Komatsu empfindet, weiß ich, ehrlich gesagt, nicht so genau«, sagte Tengo. »Aber ich habe das Gefühl, ihn treibt etwas Größeres an als der Wunsch, reich oder berühmt zu werden.«
»Zum Beispiel?«
»Herr Komatsu ist sich dessen vielleicht selbst nicht bewusst, aber er ist besessen von Literatur. So jemand hat nur einen Wunsch: Er will, und sei es nur einmal in seinem Leben, etwas ganz Echtes entdecken. Und es dann der Welt auf dem Präsentierteller darreichen.«
Der Sensei sah Tengo einen Moment
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