1Q84: Buch 1&2
zusammen etwas essen gehen. Ich würde gern in Ruhe etwas Persönliches mit Ihnen besprechen«, sagte sie.
»Sehr gern«, erwiderte Aomame. »Wie wäre es dann morgen Abend?«, fragte die alte Dame. Aomame hatte nichts dagegen. Sie fragte sich nur etwas verwundert, was die alte Dame wohl mit ihr besprechen wollte.
Das Treffen fand in einem französischen Restaurant in einem ruhigen Teil von Azabu statt. Die alte Dame schien dort seit längerem Stammgast zu sein, denn sie wurden direkt zu einem bestimmten Tisch geleitet. Der überaus höfliche Kellner in mittleren Jahren, der sie bediente, kannte sie offenbar gut. Sie trug ein schön geschnittenes, einfarbig hellgrünes Kleid (dem Anschein nach ein Givenchy-Modell aus den sechziger Jahren) und eine Kette aus Jade. Der Geschäftsführer kam eigens an ihren Tisch, um sie ehrerbietig zu begrüßen. Auf der Karte waren viele Gemüsegerichte, und auch der Geschmack war leicht und erlesen. Zufällig bestand die Tagessuppe – passend zu Aomames Namen – aus grünen Erbsen. Die alte Dame nahm nur ein Glas Chablis, und Aomame schloss sich ihr an. Passend zu den Speisen hatte der Wein ein erlesenes zartfeines Bouquet. Als Hauptgang bestellte Aomame einen gegrillten weißen Fisch. Die alte Dame nahm nur ein Gemüsegericht. Die Art, wie sie es verzehrte, war geradezu ein Kunstwerk. In ihrem Alter, so sagte sie, brauche man nur noch sehr wenig Nahrung zum Überleben. »Und möglichst delikat sollte sie sein«, fügte sie halb im Scherz hinzu.
Die alte Dame beabsichtigte, Aomame zu ihrer persönlichen Trainerin zu machen. Ob sie ihr nicht zwei- bis dreimal in der Woche Kampfsportunterricht erteilen und, wenn möglich, auch Dehnübungen mit ihr machen könne?
»Natürlich ist das möglich«, sagte Aomame. »Die Clubleitung hat nichts dagegen, dass wir private Trainingsstunden geben.«
»Gut«, sagte die alte Dame. »Allerdings möchte ich den Trainingsplan nur direkt mit Ihnen besprechen und festlegen, um lästiges Hin und Her und Einmischungen zu vermeiden. Ist das ein Problem?«
»Nein.«
»Dann können wir ja nächste Woche anfangen«, sagte die alte Dame.
Damit war der geschäftliche Teil beendet.
»Wissen Sie«, fuhr die alte Dame fort. »Was Sie kürzlich im Club zu mir gesagt haben, hat mich sehr beeindruckt. Das über die Machtlosigkeit. Wie sehr Machtlosigkeit einem Menschen schadet. Erinnern Sie sich?«
»Ja.« Aomame nickte.
»Dürfte ich Ihnen eine direkte Frage stellen?«, sagte die alte Dame. »Ich will keine Zeit vergeuden und nicht lange um den heißen Brei herumreden.«
»Sie können mich alles fragen«, antwortete Aomame.
»Sind Sie Feministin? Oder lesbisch?«
Aomame errötete ein wenig, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht. Meine Ansichten sind rein persönlicher Natur. Nein, ich bin sicher keine Feministin, und lesbisch bin ich auch nicht.«
»Danke«, sagte die alte Dame und schob sich, sichtlich beruhigt, mit vollendeter Anmut ein Brokkoliröschen in den Mund, kaute manierlich und nahm dann einen winzigen Schluck Wein.
»Verstehen Sie mich recht, auch wenn Sie Feministin oder Lesbierin wären, hätte mir das nicht das Geringste ausgemacht. Solche Dinge haben keinen Einfluss auf mich. Aber dass Sie es nicht sind, macht die Sache einfacher. Sie wissen, was ich damit sagen will?«
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Aomame.
Von nun an besuchte Aomame zweimal wöchentlich die Weidenvilla, um die alte Dame zu trainieren. Es gab dort einen großen verspiegelten Übungsraum, den diese für den Ballettunterricht ihrer Tochter eingerichtet hatte, als sie noch klein gewesen war. Die beiden bewegten ihre Körper dort in exakter Choreographie. Die alte Dame war für ihr Alter sehr gelenkig und machte rasche Fortschritte. Sie hatte immer sorgfältig auf ihren kleinen zierlichen Körper geachtet und ihn gepflegt. Neben Selbstverteidigungstechniken brachte Aomame ihr die Grundbegriffe des Stretchings bei und massierte sie, um ihre Muskulatur zu lockern.
Aomame hatte ein besonderes Talent für Massage. An der Sportuniversität war sie in diesem Fach stets die Beste gewesen. Sie hatte sich die Namen sämtlicher Knochen und Muskeln des menschlichen Körpers eingeprägt, kannte die Aufgaben und Eigenschaften jedes einzelnen Muskels und wusste, wie man ihn aufbaute und erhielt. Für Aomame war der Körper des Menschen ein Tempel. Ob man darin nun etwas verehrte oder nicht, es war ihre unerschütterliche Überzeugung, dass er zumindest gut in
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