1Q84: Buch 1&2
Schuss und sauber gehalten werden sollte.
Aus persönlichem Interesse beschäftigte sie sich neben der üblichen Sportmedizin auch mit Akupunktur und hatte mehrere Jahre regelmäßig bei einem chinesischen Meister Unterricht genommen, den sie mit ihren raschen Fortschritten beeindruckte. Mittlerweile konnte sie sich mit einigem Recht als Profi bezeichnen. Aomame hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und ihre Wissbegier war unersättlich, was die einzelnen Funktionen des menschlichen Körpers betraf. Vor allem aber hatte sie eine ungewöhnliche Intuition in ihren Fingerspitzen. Wie manche Menschen das absolute Gehör haben oder die Fähigkeit, unterirdische Wasseradern zu entdecken, vermochte Aomame mit ihren Fingern sofort die winzigsten Punkte zu erspüren, die unsere Körperfunktionen kontrollieren. Sie beherrschte diese Kunst, die man nicht lernen kann, von Natur aus.
Sooft Aomame und die alte Dame das Training und die Massage beendet hatten, tranken sie noch ein Weilchen zusammen Tee und plauderten. Stets servierte Tamaru ihnen den Tee auf dem silbernen Tablett. Da er im ersten Monat vor Aomame niemals den Mund aufmachte, musste sie die alte Dame fragen, ob er möglicherweise stumm sei.
Einmal erkundigte sich die alte Dame, ob Aomame in der Praxis schon einmal jemandem in die Hoden getreten habe, um sich zu schützen.
Nur einmal, hatte Aomame geantwortet.
»Und hatten Sie Erfolg?«, fragte die alte Dame.
»Es war sehr wirkungsvoll«, erwiderte Aomame wachsam und wortkarg.
»Glauben Sie, es würde bei unserem Tamaru klappen?«
Aomame schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Tamaru kennt sich in diesen Dingen sehr gut aus. Wenn die Bewegung von einem, der sich auskennt, erkannt wird, hat man keine Chance. Der Tritt in die Hoden funktioniert nur bei Anfängern, die nicht an Schlägereien gewöhnt sind.«
»Es ist Ihnen also aufgefallen, dass Tamaru kein ›Anfänger‹ ist?«
Aomame wählte ihre Worte mit Bedacht. »Tja, wie soll ich sagen? Er macht einen anderen Eindruck als gewöhnliche Menschen.«
Die alte Dame goss Sahne in ihren Tee und rührte ihn langsam mit ihrem Löffel um.
»Demnach war der Mann, mit dem Sie es damals zu tun hatten, ein Anfänger? War er groß?«
Aomame nickte, sagte aber nichts. Der Mann war körperlich fit gewesen und offenbar auch kräftig. Aber er war eingebildet und ließ sich überrumpeln, weil sein Gegner eine Frau war und er sie unterschätzte. Bis dahin hatte Aomame noch nie jemandem in die Hoden getreten und auch nicht damit gerechnet, dass sie einmal in die Verlegenheit kommen würde.
»Haben Sie den Mann ernsthaft verletzt?«
»Nein, es tat ihm nur für eine Weile ziemlich weh.«
Die alte Dame schwieg einen Moment. Dann stellte sie eine weitere Frage. »Haben Sie davor schon einmal einen Mann angegriffen? Ihm nicht nur Schmerz zugefügt, sondern ihn mit Absicht verwundet?«
»Ja«, sagte Aomame. Lügen war nicht ihre Stärke.
»Können Sie darüber reden?«
Aomame schüttelte kurz den Kopf. »Tut mir leid, das geht nicht so einfach.«
»Das macht nichts. Natürlich ist es nicht so leicht, über so etwas zu sprechen. Es muss auch nicht sein«, sagte die alte Dame.
Schweigend tranken die beiden ihren Tee und hingen ihren jeweiligen Gedanken nach.
Bald ergriff die alte Dame wieder das Wort. »Aber sollten Sie irgendwann einmal das Gefühl haben, darüber sprechen zu können, würden Sie mir dann erzählen, was geschehen ist?«
»Ja, vielleicht. Aber möglicherweise werde ich es nie können. Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht.«
Die alte Dame blickte Aomame ins Gesicht. »Ich frage nicht aus Neugier«, sagte sie dann.
Aomame schwieg.
»Ich kann sehen, dass Sie eine Last mit sich herumtragen. Eine ziemlich schwere Last. Ich habe es gleich gespürt, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Sie haben einen entschlossenen, starken Blick. Offen gesagt habe auch ich eine solche Erfahrung . Etwas Schweres, das ich mit mir herumtrage. Darum weiß ich Bescheid. Wir haben keine Eile. Dennoch ist es besser, so etwas irgendwann herauszulassen. Ich bin sehr verschwiegen und verfüge über einige praktische Mittel. Wenn alles gutgeht, kann ich Ihnen vielleicht nützlich sein.«
Als Aomame es später wagte, der alten Dame ihre Geschichte zu offenbaren, stieß sie damit eine neue Tür in ihrem Leben auf.
»Was trinken Sie denn da?«, sagte jemand dicht neben Aomames Ohr. Es war die Stimme einer Frau.
Aomame kam zu sich und blickte auf. Eine junge Frau mit
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