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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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mir und ein paar Studenten, die ich dafür angestellt habe, privat hier zu Hause unterrichtet. Eine reguläre schulische Ausbildung kann man das nicht nennen, im Grunde ist das Stückwerk. Weil es ihr so schwerfällt, selbst zu lesen, haben wir ihr bei jeder Gelegenheit vorgelesen. Auch Hörbücher auf Band haben wir für sie gekauft. Das ist ungefähr die Ausbildung, die sie bisher erhalten hat. Allerdings ist sie ein sehr intelligentes Mädchen. Sie besitzt eine erstaunlich schnelle, gründliche und effiziente Auffassungsgabe, wenn sie etwas lernen will. Wirklich herausragend. Dinge, die sie nicht interessieren, ignoriert sie dafür völlig. Da besteht eine große Diskrepanz.«
    Die Tür zum Empfangsraum blieb weiter geschlossen. Konnte es wirklich so lange dauern, Wasser zu erhitzen und Tee aufzubrühen?
    »Eri hat also Azami die Geschichte von der ›Puppe aus Luft‹ erzählt, ja?«, fragte Tengo.
    »Wie gesagt, haben sich die beiden Mädchen abends immer in ihr Zimmer eingeschlossen. Was sie da gemacht haben, weiß ich nicht. Das ist ihr Geheimnis. Doch irgendwann scheint es hauptsächlich um Eris Geschichte gegangen zu sein. Azami hat das, was Eri ihr erzählte, mitgeschrieben oder aufgenommen und es dann auf dem Wortprozessor in meinem Büro zu einem Text verarbeitet. Seither scheint Eri allmählich wieder zu ihren Gefühlen zurückzufinden. Die Apathie, die sie fast wie eine Membran überzogen hatte, ist verschwunden, und ihre Mimik ist zurückgekehrt. Beinahe, als würde die Eri von früher wieder zum Vorschein kommen.«
    »Es hat also eine Genesung eingesetzt?«
    »Keine vollständige, aber zumindest eine teilweise. Vielleicht ist Eris Rückkehr zu sich selbst dadurch in Gang gekommen, dass sie ihre Geschichte erzählt hat.«
    Tengo dachte nach. Dann wechselte er das Thema.
    »Haben Sie wegen der Fukadas die Polizei eingeschaltet?«
    »Ja, ich war auf dem örtlichen Polizeirevier. Ich habe nichts von Eri gesagt, nur gemeldet, dass ich seit längerer Zeit zu guten Freunden bei den Vorreitern keine Verbindung hätte. Ob da ein Fall von Freiheitsberaubung vorliegen könne? Leider hatten sie damals keine Handhabe. Das Anwesen der Vorreiter ist Privatbesitz, und solange kein Beweis für ein Verbrechen vorliegt, kann die Polizei keinen Fuß hineinsetzen. Man konnte reden, soviel man wollte, sie gewährten einfach niemandem Zutritt. Und seit 1979 ist es faktisch so gut wie unmöglich, gegen sie zu ermitteln.«
    Der Professor schüttelte in der Erinnerung an die damaligen Ereignisse mehrmals den Kopf.
    »Ist 1979 etwas Besonderes passiert?«, fragte Tengo.
    »In dem Jahr wurden die Vorreiter als Religionsgemeinschaft anerkannt.«
    Tengo fehlten für einen Augenblick die Worte. »Als Religionsgemeinschaft?«
    »Wirklich erstaunlich«, sagte der Professor. »Die Vorreiter erhielten vom Gouverneur der Präfektur Yamanashi die offizielle Anerkennung als Religionsgemeinschaft. Seither ist es für die Polizei nahezu unmöglich, einen Durchsuchungsbefehl für das Anwesen zu bekommen. Denn damit wäre das verfassungsmäßig garantierte Recht auf freie Religionsausübung bedroht. Und die Vorreiter hatten gute Anwälte und eine starke Verteidigung aufgebaut. Mit der örtlichen Polizei kam man dagegen nicht an. Es war auch die Polizei, die mich über die Anerkennung der Vorreiter als Religionsgemeinschaft informierte. Ich war völlig verblüfft. Es traf mich wie ein Schlag aus heiterem Himmel, anfangs konnte ich es überhaupt nicht glauben. Selbst als sie mir die Dokumente zeigten und ich mich mit eigenen Augen überzeugt hatte, fiel es mir nicht leicht, es zu verdauen. Ich kenne Fukada seit einer Ewigkeit. Sein Charakter und seine Persönlichkeit sind integer. Durch meine Arbeit als Kulturanthropologe habe ich einen nicht nur oberflächlichen Bezug zur Religion. Doch im Gegensatz zu mir war Fukada immer ein von Grund auf politischer Mensch, ein Mann, dessen oberstes Gebot die Vernunft war. Jedenfalls hatte er eine nahezu physiologische Abneigung gegen alles Religiöse. Eine Anerkennung als Religionsgemeinschaft, und sei es aus strategischen Gründen, hätte er nie akzeptiert.«
    »Es ist doch sicher gar nicht so leicht, diesen Status zu erhalten.«
    »Ganz gewiss nicht«, sagte der Professor. »Man muss zahllose Anforderungen und Auflagen erfüllen und ein kompliziertes offizielles Gesuch nach dem anderen einreichen, aber wenn politischer Einfluss dahintersteht, lassen sich solche Schranken verhältnismäßig leicht aus dem

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