1Q84: Buch 1&2
lehnten sie Bluttransfusionen strikt ab. Wurde eines ihrer Mitglieder bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt, waren seine Überlebenschancen ziemlich gering. So kamen auch größere Operationen nicht in Frage. Dafür würden sie nach dem Ende der Welt als Auserwählte Gottes in einem paradiesischen Tausendjährigen Reich leben.
Das Mädchen damals hatte die gleichen großen klaren Augen besessen wie die Kleine in der Bahn. Eindrucksvolle Augen. Und ein schönes Gesicht, das allerdings immer wie von einem undurchsichtigen dünnen Film überzogen gewesen war. Wie um jede lebendige Regung zu verdecken. Solange es nicht unbedingt nötig war, machte sie den Mund nicht auf. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Gefühle, und ihre schmalen Lippen waren stets fest aufeinandergepresst.
Sie hatte Tengos Interesse erregt, weil sie jedes Wochenende mit ihrer Mutter missionieren gehen musste. Bei den Zeugen Jehovas war es üblich, dass die Kinder, sobald sie laufen konnten, mit ihren Eltern an allen religiösen Aktivitäten teilnahmen. Schon Dreijährige begleiteten ihre – meist – Mütter, wenn diese von Tür zu Tür gingen, ein Heftchen mit dem Titel Vor der Sintflut verteilten und die Lehre der Zeugen Jehovas erläuterten. In leicht verständlicher Sprache legten sie dar, welches die Anzeichen für den nahenden Untergang der gegenwärtigen Welt seien. Natürlich wurden sie meist abgewiesen, oft genug schlug man ihnen die Tür vor der Nase zu. Ihre Lehre war zu engstirnig, einseitig und realitätsfern, fern zumindest von dem, was der größte Teil der Menschheit für Realität hielt. Doch hin und wieder hörte ihnen auch mal jemand zu. Es gibt immer Menschen auf der Welt, die Gesprächspartner suchen, egal, was diese zu sagen haben. Und unter diesen wiederum gab es, wenn auch in noch geringerer Zahl, welche, die anschließend an einer Zusammenkunft der Zeugen Jehovas teilnahmen. Auf der Suche nach diesem einen Fall unter tausend wanderten die Frauen von Haus zu Haus und drückten Klingelknöpfe. Es war die ihnen auferlegte heilige Pflicht, unausgesetzt und unermüdlich danach zu trachten, andere Menschen, und seien es auch noch so wenige, zum Erwachen zu führen. Je schwerer diese Pflicht war, je höher die Schwelle zum Ziel, desto strahlender die Glückseligkeit, die später ihrer harren würde.
Auch das Mädchen aus Tengos Klasse musste seine Mutter bei ihren Missionsversuchen begleiten. In der einen Hand trug die Mutter einen Stoffbeutel mit Exemplaren von Vor der Sintflut und in der anderen meist einen Sonnenschirm. Das Mädchen ging einige Schritte hinter ihr. Es hatte wie üblich die Lippen fest aufeinandergepresst, und seine Miene war ausdruckslos. Auf ihren Runden für NHK waren Tengo und sein Vater den beiden mehrmals auf der Straße begegnet. Tengo erkannte das Mädchen, und das Mädchen erkannte ihn. Und jedes Mal leuchteten ihre Augen auf. Natürlich sprachen sie nie ein einziges Wort miteinander. Sie grüßten sich nicht einmal. Tengos Vater war ganz und gar damit beschäftigt, seine Erfolgsrate zu steigern, und die Mutter des Mädchens dachte nur daran, das angeblich herannahende Ende der Welt zu verkünden. An diesen wenigen Sonntagen waren Tengo und das Mädchen im Schlepptau ihrer Eltern aneinander vorbeigeeilt und hatten kurze Blicke getauscht.
Alle in der Klasse wussten, dass das Mädchen eine Zeugin Jehovas war, die »aus religiösen Gründen« nicht an Weihnachtsfeiern, Ausflügen zu Schreinen oder buddhistischen Tempeln und an Sportfesten teilnehmen durfte. Die Schul- und die Nationalhymne sang sie auch nicht mit. Dieses außergewöhnliche und unverständliche Verhalten führte dazu, dass sie immer mehr ins Abseits geriet. Zu allem Überfluss hatte sie vor dem Mittagessen ein bestimmtes Gebet zu verrichten, das sie so laut aufsagen musste, dass alle es hören konnten. Natürlich war das den anderen Kindern irgendwie unheimlich. Ganz bestimmt verspürte sie nicht den geringsten Wunsch, in aller Öffentlichkeit zu beten. Doch sie konnte das Gebet vor dem Essen nicht auslassen, nur weil ihre Glaubensgenossen sie nicht sahen. Denn »der Vater im Himmel« sah alles, auch die kleinste Kleinigkeit.
Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt. Dein Königreich komme. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben. Sei mit uns durch deinen Segen, sei um uns auf unseren Wegen. Amen.
Unser Gedächtnis ist eine wundersame Sache. Obwohl all dies zwanzig Jahre zurücklag, konnte Tengo
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