1Q84: Buch 1&2
mangelnde Bewegung Speck angesetzt hatte. Auch wenn sein Gesicht sich etwas Jungenhaftes bewahrt hatte, bekam er bereits ein Doppelkinn. Die beiden saßen in freundschaftlichem Gespräch bei einem Whisky Soda und ließen dabei hin und wieder ihre Blicke interessiert durch den Raum schweifen.
Ayumi analysierte die Lage. »Wie es aussieht, besuchen sie Bars wie diese nicht gewohnheitsmäßig. Sie wollen sich amüsieren, wissen aber nicht, wie man Mädchen anspricht. Wahrscheinlich sind beide verheiratet. Sie haben so etwas Verstohlenes an sich.«
Aomame bewunderte Ayumis präzise Beobachtungsgabe. Offenbar hatte die junge Polizistin, während sie sich unterhielten, all dies herausgefunden, ohne dass Aomame etwas davon gemerkt hatte. Dazu musste man wohl aus einer Polizistenfamilie stammen.
»Du magst doch Männer mit wenig Haaren, Aomame? Dann würde ich den Kräftigen nehmen. Macht dir das was aus?«
Aomame drehte sich noch einmal um. Die Kopfform des Mannes mit den schütteren Haaren ging so einigermaßen. Lichtjahre von Sean Connery entfernt, natürlich, aber die Mindestpunktzahl erreichte er. Was konnte man schon an einem Abend erwarten, an dem man unentwegt mit Queen und ABBA beschallt wurde. Luxusklasse jedenfalls nicht.
»In Ordnung. Aber wie schaffen wir es, dass sie uns an ihren Tisch bitten?«
»Bis zum Morgengrauen können wir nicht warten. Wir müssen sie von uns aus ansprechen. Freundlich lächeln, liebenswürdig, schön positiv«, sagte Ayumi.
»Im Ernst?«
»Natürlich. Ich gehe hin und beginne eine leichte Unterhaltung, überlass das mir. Du kannst hier warten«, erklärte Ayumi. Sie nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Tom Collins und rieb sich die Hände. Dann hängte sie sich entschlossen ihre Gucci-Tasche über die Schulter und lächelte charmant. »Na dann. Zeit für etwas Schlagstocktraining.«
KAPITEL 12
Tengo
Dein Königreich komme
Professor Ebisuno wandte sich an Fukaeri. »Eri, könntest du uns bitte einen Tee machen?«
Die junge Frau stand auf und verließ den Empfangsraum. Leise schloss sie die Tür. Der Professor wartete wortlos darauf, dass der auf dem Sofa sitzende Tengo zu Atem kam und seine Lebensgeister wieder erwachten. Währenddessen nahm er seine schwarz geränderte Brille ab, putzte sie mit einem nicht ganz reinlich wirkenden Taschentuch und setzte sie wieder auf. Irgendwo fern am Himmel vor dem Fenster zog etwas kleines Schwarzes vorüber. Vielleicht ein Vogel. Oder jemandes Seele, die ans Ende der Welt geweht wurde.
»Entschuldigen Sie«, sagte Tengo. »Alles wieder in Ordnung. Es ist nichts. Bitte fahren Sie fort.«
Professor Ebisuno nickte und begann zu sprechen. »Das Feuergefecht im Jahr 1981 führte zur Zerschlagung der Splitterkommune Akebono. Das war also vor drei Jahren und damit vier Jahre nachdem Eri zu uns gekommen war. Aber das mit Akebono tut vorläufig nichts zur Sache. Eri war zehn Jahre alt, als sie damals völlig unerwartet vor unserer Tür stand. Sie war nicht mehr das Mädchen, das ich gekannt hatte. Aus ihr war ein schweigsames, sehr zurückhaltendes, gegenüber Fremden fast ängstliches Kind geworden. Auch mir gegenüber war sie scheu, obwohl sie mich von klein auf kannte und wir viel miteinander gesprochen hatten. Aber damals befand sie sich in einem Zustand, in dem sie mit niemandem reden konnte. Es war, als habe sie die Sprache verloren. Auch wenn man sie ansprach, nickte sie nur oder schüttelte den Kopf.«
Der Sensei sprach nun immer schneller, und der Klang seiner Stimme wurde klarer. Er schien die Geschichte vorantreiben zu wollen, solange Fukaeri nicht im Raum war.
»Offenbar hatte es sie große Mühe gekostet, hier heraufzufinden. Sie hatte etwas Geld und einen Brief mit unserer Adresse bei sich, aber sie war ja in völliger Abgeschiedenheit aufgewachsen und konnte überdies nicht richtig sprechen. Dennoch war sie mit dem Zettel in der Hand von einem öffentlichen Verkehrsmittel ins andere gestiegen und hatte sich bis vor unsere Tür durchgeschlagen. Man sah auf den ersten Blick, dass Eri etwas Schlimmes zugestoßen war. Die Frau, die uns im Haushalt hilft, und Azami kümmerten sich um sie. Als sie sich nach einigen Tagen etwas beruhigt zu haben schien, rief ich bei den Vorreitern an. Ich wollte Fukada sprechen. Mir wurde mitgeteilt, Fukada befinde sich in einer Verfassung, in der er nicht telefonieren könne. Auf meine Frage, was das für eine Verfassung sei, erhielt ich keine Antwort. Ich verlangte, seine Frau zu sprechen. Auch
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