1Q84: Buch 1&2
sie bezwingen könnte. Doch vielleicht verbirgt sich in der Geschichte von der ›Puppe aus Luft‹ ein Schlüssel zur Lösung des Rätsels. Selbst wenn nur die winzigste Chance besteht, möchte ich, dass Sie weitermachen. Ob und inwieweit Sie dafür qualifiziert sind, weiß ich nicht. Aber vielleicht besteht Ihre Befähigung schon darin, dass Sie Eris Geschichte wertschätzen und sich so sehr in sie vertieft haben.«
»Ich möchte, dass Sie mir ganz eindeutig mit Ja oder Nein antworten«, sagte Tengo. »Deshalb bin ich heute hier. Erteilen Sie mir die Erlaubnis, ›Die Puppe aus Luft‹ zu überarbeiten?«
Der Sensei nickte. »Ich möchte Ihre überarbeitete Fassung lesen. Eri scheint Ihnen völlig zu vertrauen. Als einzigem Menschen, abgesehen von Azami und mir selbstverständlich. Daher gestatte ich Ihnen, es zu versuchen. Ich vertraue Ihnen Eris Werk an. Meine Antwort lautet demnach eindeutig Ja.«
Er machte eine Pause, und eine gewichtige, schicksalsschwangere Stille senkte sich über den Raum. Just in diesem Moment brachte Fukaeri den Tee. Als habe sie vorausberechnet, dass das Gespräch der beiden nun beendet war.
Die Rückfahrt legte Tengo allein zurück. Fukaeri war mit dem Hund spazieren gegangen. Als die Abfahrtszeit des Zuges nahte, rief man Tengo ein Taxi, in dem er zum Bahnhof Futamatao fuhr. In Tachikawa stieg er in die Chuo-Linie um.
Ab Mitaka saßen ihm eine Mutter und ihre kleine Tochter gegenüber. Beide waren sehr adrett. Ihre Kleidung wirkte weder teuer noch besonders neu. Aber sie war makellos sauber und gepflegt. Die weißen Sachen waren so weiß, dass es weißer nicht ging, und alles war sorgfältig gebügelt. Das Mädchen, das wohl in die zweite oder dritte Klasse ging, hatte ebenmäßige Züge und große Augen. Seine Mutter war schlank und hatte ihre Haare im Nacken zusammengebunden. Sie trug eine Brille mit schwarzem Rand und hatte einen verwaschenen, vollgestopften Stoffbeutel dabei. Auch ihre Gesichtszüge waren sehr ebenmäßig, aber sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, die sie älter aussehen ließen, als sie vermutlich in Wirklichkeit war. Sie wirkte seelisch erschöpft. Es war erst Mitte April, dennoch hatte sie einen Sonnenschirm bei sich, der so fest eingerollt war, dass er an einen völlig verdorrten Stock erinnerte.
Die beiden saßen die ganze Fahrt über schweigend auf ihren Plätzen. Die Mutter wirkte, als würde sie in ihrem Kopf ein Programm zusammenstellen. Die Kleine neben ihr langweilte sich, starrte auf ihre Schuhe, auf den Boden, auf die Reklameposter an der Decke, und hin und wieder streifte ihr Blick auch Tengo, der ihr gegenübersaß. Irgendwie schienen seine Größe und seine Blumenkohlohren ihr Interesse zu wecken. Kinder musterten Tengo häufig, als würden sie ein harmloses, aber seltenes Tier beobachten. Alles Mögliche betrachtete die Kleine, indem sie die Augen lebhaft umherhuschen ließ, ohne ihren Körper oder ihren Kopf zu bewegen.
An der Station Ogikubo stiegen Mutter und Tochter aus. Als die Bahn abbremste, erhob sich die Mutter abrupt und ohne ein Wort. Den Sonnenschirm hielt sie in der linken, den Stoffbeutel in der rechten Hand. Die Kleine sprang sofort auf und folgte ihrer Mutter. Bevor sie ausstieg, warf sie noch einen letzten Blick auf Tengo. Ein seltsamer, fast flehender Ausdruck blitzte darin auf. Er war nur ganz schwach, aber Tengo konnte ihn sehen. Das kleine Mädchen sandte ein Signal aus – das spürte er. Aber es verstand sich von selbst, dass er, auch auf das Signal hin, nichts unternehmen konnte. Er kannte weder die Umstände, noch hatte er ein Recht, sich einzumischen. Das Mädchen stieg also mit seiner Mutter in Ogikubo aus, die Tür ging zu, Tengo blieb sitzen und fuhr weiter zur nächsten Station. Auf ihre Plätze setzten sich drei Teenager, die offenbar gerade von einer Probeklausur kamen, und begannen, sich laut und lebhaft zu unterhalten. Doch die stille Gestalt des kleinen Mädchens schwebte noch eine ganze Weile im Raum.
Ihre Augen hatten Tengo an ein anderes Mädchen erinnert, das ab der dritten oder vierten Klasse zwei Jahre auf seiner Schule gewesen war. Es hatte die gleichen Augen gehabt wie das kleine Mädchen von eben. Mit diesen Augen hatte es Tengo lange angesehen. Und …
Die Eltern dieses Mädchens hatten den Zeugen Jehovas angehört, einer Sekte, die den Weltuntergang predigte, für ihre ausgeprägte Missionstätigkeit bekannt war und sich buchstabengetreu an die Aussagen der Bibel hielt. Beispielsweise
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