Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
sich noch genau an das Gebet erinnern. DEIN KÖNIGREICH KOMME . Als Grundschüler hatte er sich immer gefragt, um welche Art von Königreich es sich wohl handeln mochte. Gab es dort öffentlichrechtliche Sender wie NHK ? Wahrscheinlich nicht. Und wenn es kein NHK gab, mussten auch keine Gebühren eingesammelt werden. In diesem Fall, dachte er, wäre es wohl von Vorteil, wenn dieses Königreich möglichst bald käme.
    Tengo sprach nie mit ihr. Sie gingen zwar in eine Klasse, aber es ergab sich keine Gelegenheit dazu. Sie stand immer allein und etwas abseits und redete mit keinem, solange es nicht unbedingt nötig war. Sie strahlte auch nichts aus, das andere hätte bewegen können, zu ihr hinzugehen und sie anzusprechen. Doch im Herzen fühlte Tengo mit ihr, denn sie hatten eine einzigartige Gemeinsamkeit. Beide mussten sie an Sonnoder Feiertagen mit einem Elternteil von Haus zu Haus wandern und an fremden Türen klingeln. Gewiss bestand ein Unterschied zwischen Missionieren und Gebühreneintreiben, dennoch wusste Tengo aus eigener Erfahrung ganz genau, wie sehr ein Kind unter einer aufgezwungenen Bürde wie dieser litt. Kinder sollten an Sonntagen nach Herzenslust mit anderen Kindern herumtollen dürfen. Und nicht herumlaufen müssen, um Geld einzusammeln oder den Weltuntergang zu verkünden. So etwas sollten Erwachsene tun – wenn es schon getan werden musste.
    Nur ein einziges Mal kam es dazu, dass Tengo mit dem Mädchen sprach. Es war Herbst, und sie waren in der vierten Klasse. Sie hatten Physikunterricht, und die Kinder experimentierten in Gruppen. Das Mädchen wurde von den anderen Kindern in seiner Gruppe beschimpft, weil es irgendetwas falsch gemacht hatte. Worum es sich gehandelt hatte, wusste Tengo nicht mehr. Einer der Jungen verhöhnte sie, weil sie eine Zeugin Jehovas war. Sie könne doch nichts als Häuser abklappern und blöde Prospekte verteilen. Schließlich äffte er sie nach, indem er immer wieder »O Herr, o Herr« rief. So etwas kam selten vor. Normalerweise behandelten die anderen Kinder das Mädchen so, als würde es gar nicht existieren , wie Luft eben, statt es zu schikanieren oder zu hänseln. Aber von den Experimenten in den naturwissenschaftlichen Fächern konnte man niemanden ausschließen. Jedenfalls war das, was dem Mädchen jetzt an den Kopf geworfen wurde, ziemlich giftig. Tengo gehörte zu einer Gruppe am Tisch nebenan und konnte auf keinen Fall überhören, was los war. Er wusste nicht warum, aber er konnte einfach nicht tatenlos zuzusehen.
    Also ging er an den anderen Tisch und forderte sie auf, in seine Gruppe zu wechseln. Er handelte völlig spontan, ohne darüber nachzudenken, ohne zu zögern. Daraufhin erklärte er ihr ausführlich, worum es bei dem Experiment ging. Sie hörte ihm sehr aufmerksam zu, verstand und machte den Fehler danach nicht mehr. Es war das erste (und das letzte) Mal in den zwei Jahren, die sie in einer Klasse waren, dass Tengo mit ihr sprach. Er war gut in der Schule, außerdem groß und kräftig. Er fiel sofort auf. Daher traute sich – zumindest in dieser Situation – niemand, sich darüber lustig zu machen, dass er sie in Schutz nahm. Dennoch war er, weil er für sie Partei ergriffen hatte, in der Achtung der Klasse gesunken. Offenbar hatte etwas von dem Makel, der dem Mädchen anhaftete, auf ihn abgefärbt.
    Aber Tengo kümmerte sich nicht darum. Er wusste genau, dass sie ein ganz normales Mädchen war. Wären ihre Eltern keine Zeugen Jehovas gewesen, dann wäre sie wohl völlig normal aufgewachsen und von allen akzeptiert worden. Bestimmt hätte sie gute Freunde gefunden. Nur weil ihre Eltern Zeugen Jehovas waren, wurde sie in der Schule behandelt, als sei sie unsichtbar. Niemand sagte je etwas zu ihr. Sie wurde nicht einmal angesehen. Tengo fand das sehr ungerecht.
    Nach diesem Zwischenfall sprachen sie und Tengo nicht mehr miteinander. Es gab keine Notwendigkeit und auch keine Gelegenheit dazu. Aber sooft ihre Blicke sich zufällig begegneten, machte sich eine leichte Unruhe auf ihrem Gesicht bemerkbar. Tengo sah es. Vielleicht war es ihr unangenehm gewesen, wie er sich ihr gegenüber verhalten hatte. Oder sie war böse auf ihn, weil es ihr lieber gewesen wäre, wenn er alles so gelassen und nichts unternommen hätte. Tengo konnte es nicht beurteilen. Er war ein Kind und noch nicht imstande, in den Gesichtern anderer Menschen zu lesen.
    Doch eines Tages ergriff das Mädchen Tengos Hand. Es war an einem wunderschönen klaren Nachmittag Anfang

Weitere Kostenlose Bücher