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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Dezember. Nur ein paar dünne weiße Wolkenschleier zogen über den hohen Himmel vor dem Fenster. Die Kinder hatten nach dem Unterricht das Klassenzimmer aufgeräumt, und bis auf Tengo und das Mädchen waren alle anderen schon fort. Plötzlich durchquerte sie schnell und entschlossen das Klassenzimmer, blieb neben Tengo stehen und nahm ohne zu zögern seine Hand. Dann hob sie den Blick und sah ihm direkt ins Gesicht (Tengo war ungefähr zehn Zentimeter größer als sie). Auch Tengo schaute ihr ins Gesicht. Ihre Augen trafen sich. Er erkannte in ihren Augen eine klare Tiefe, die ihm vorher nicht aufgefallen war. Lange und stumm hielt sie seine Hand. Nicht einen Augenblick lockerte sie ihren festen Griff. Dann ließ sie plötzlich los und verließ das Klassenzimmer so rasch, dass ihr Rocksaum flatterte.
    Entgeistert und sprachlos vor Staunen blieb Tengo wie angewurzelt an der gleichen Stelle stehen. Sein erster Gedanke war: Wie gut, dass niemand uns gesehen hat. Nicht auszudenken, was dann los gewesen wäre. Er sah sich um, erleichtert zuerst. Doch dann fühlte er sich zutiefst verstört.
    Vielleicht waren die Frau und ihre Tochter, die von Mitaka bis Ogikubo in der Bahn ihm gegenübergesessen hatten, auch Zeugen Jehovas auf ihrer sonntäglichen Tour gewesen. Der dicke Stoffbeutel konnte durchaus mit Vor der Sintflut -Heften vollgestopft gewesen sein. Der Sonnenschirm, den die Mutter dabeihatte, und die glänzenden Augen des Mädchens hatten Tengo stark an seine stille Mitschülerin erinnert.
    Nein, die beiden in der Bahn waren keine Zeugen Jehovas gewesen. Wahrscheinlich hatte es sich nur um eine ganz normale Mutter mit ihrem ganz normalen Kind auf dem Weg zu etwas ganz Normalem gehandelt. Und in dem Stoffbeutel hatten sie Klaviernoten, Schreibblätter oder sonst etwas gehabt. Ich werde wirklich übersensibel, dachte Tengo. Dann schloss er die Augen und atmete langsam ein und aus. An Sonntagen hatte die Zeit einen sonderbaren Fluss, und die Welt wirkte seltsam verzerrt.
    Zu Hause angekommen, fiel ihm ein, dass er gar nichts zu Mittag gegessen hatte, und er machte sich eine Kleinigkeit zum Abendbrot. Nach dem Essen hätte er gern Komatsu angerufen, um ihm von dem Ausgang des Treffens zu erzählen. Aber der ging sonntags nicht in die Redaktion, und Tengo hatte seine Privatnummer nicht. Und wenn Komatsu wissen wollte, was passiert war, konnte er ja auch Tengo anrufen.
    Es war kurz nach zehn, und er wollte gerade ins Bett gehen, als das Telefon klingelte. Tengo vermutete, es sei Komatsu, aber als er abhob, erkannte er die Stimme seiner verheirateten Freundin. Sie habe zwar nicht viel Zeit, sagte sie, doch wolle sie fragen, ob sie übermorgen Nachmittag kurz bei ihm vorbeikommen dürfe.
    Im Hintergrund war leise Klaviermusik zu hören. Anscheinend war ihr Mann noch nicht wieder zu Hause. Natürlich, sagte Tengo. Wenn sie vorbeikäme, würde er die Arbeit am Manuskript von »Die Puppe aus Luft« eine Weile unterbrechen müssen. Doch beim Klang ihrer Stimme spürte Tengo, dass es ihn stark nach ihrem Körper verlangte. Er legte auf, ging in die Küche, goss sich ein Glas Wild Turkey ein und kippte ihn an der Spüle stehend in einem Zug hinunter. Anschließend legte er sich ins Bett, las ein paar Seiten und schlief ein.
    So ging für Tengo ein langer, sonderbarer Sonntag zu Ende.

KAPITEL 13
    Aomame
    Das geborene Opfer
    Als Aomame aufwachte, merkte sie, dass sie einen handfesten Kater hatte. Wo sie doch fast nie einen Kater bekam. Sie konnte trinken, soviel sie wollte, am nächsten Morgen war ihr Kopf stets klar, und sie konnte den Tag sofort in Angriff nehmen. Darauf war sie stolz. Doch aus unerfindlichen Gründen pochten ihr heute schmerzhaft die Schläfen, und ihr Bewusstsein war getrübt. Es fühlte sich an, als umschließe ein eiserner Ring ihren Kopf. Ihrer Uhr nach war es bereits nach zehn. Das grelle vormittägliche Licht stach ihr unangenehm in die Augen. Ein auf der Straße vorbeifahrendes Motorrad verwandelte sich in ihrem Zimmer in ein knatterndes Folterwerkzeug.
    Sie lag splitternackt in ihrem Bett, hatte aber nicht die geringste Erinnerung daran, wie sie nach Hause gekommen war. Ihre Kleider vom Abend zuvor lagen um ihr Bett herum auf dem Fußboden verstreut. Offenbar hatte sie sie irgendwie heruntergerissen und fallen lassen, wo sie gerade stand. Ihre Umhängetasche lag auf dem Schreibtisch. Über die Kleidungsstücke hinwegsteigend, ging sie in die Küche und trank mehrere Gläser Leitungswasser. Im Bad wusch

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