1Q84: Buch 3
Fernsehen gesehen. Es war ein fremdartig wirkendes, von hohen Zäunen umgebenes Gelände, das tief in den Bergen lag. Die Möglichkeit, zu flüchten oder um Hilfe zu rufen, schien so gut wie ausgeschlossen. Falls sie ihn umbrächten (vermutlich eine der Alternativen, die »für beide Seiten kaum als angenehm zu bezeichnen« waren), würde seine Leiche niemals gefunden werden. Zum ersten Mal in seinem Leben war der Tod für Komatsu als reale Möglichkeit in greifbare Nähe gerückt.
Am (vermutlich) zehnten Tag, nachdem man ihn gezwungen hatte, im Verlag anzurufen, tauchten die beiden endlich wieder auf. Der Kahlkopf schien etwas dünner als beim letzten Mal, seine Wangenknochen standen stärker hervor. Seine kalten Augen waren blutunterlaufen. Er setzte sich wie beim letzten Mal auf einen mitgebrachten Rohrstuhl an den Tisch. Lange Zeit sagte er nichts und starrte Komatsu nur mit seinen geröteten Augen an.
Der Pferdeschwanz wirkte äußerlich unverändert. Wie beim letzten Mal stand er hoch aufgerichtet an der Tür und fixierte ausdruckslos einen Punkt im Raum. Wieder trugen die beiden schwarze Hosen und weiße Hemden. Offenbar handelte es sich um eine Art Uniform.
»Wir wollten unser Gespräch vom letzten Mal fortführen«, begann endlich der Kahlkopf. »Das Gespräch darüber, wo und wie wir uns mit Ihnen befassen.«
Komatsu nickte. »Einschließlich der Vorgehensweisen, die für beide Seiten kaum als angenehm zu bezeichnen sind.«
»Sie haben wirklich ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, sagte der Kahlkopf. »Ganz recht. Auch ein unglücklicher Ausgang kommt durchaus in Frage.«
Komatsu schwieg, und der Kahle fuhr fort.
»Doch letztlich ist das eine Sache, die vernünftig gelöst werden sollte. Auch sie wolllen sich möglichst nicht für eine zu extreme Alternative entscheiden. Wenn Sie, Herr Komatsu, plötzlich verschwänden, könnte das weitere unangenehme Umstände nach sich ziehen. Wie zu der Zeit, als Eriko Fukada verschwand. Vielleicht gibt es nicht sehr viele Menschen, die Ihr Ableben betrauern würden, aber offenbar schätzt man Sie als kompetenten Redakteur. Als solcher sind Sie in der ganzen Branche bekannt. Und selbst Ihre von Ihnen getrennt lebende Gattin würde Ihre monatlichen Zuwendungen sicher ungern missen. All dies sind keine Entwicklungen, die sie als günstig bezeichnen würden.«
Komatsu hustete trocken und schluckte.
» Sie haben keineswegs den Wunsch, Sie persönlich anzuklagen oder zu bestrafen. Sie wissen, dass es nicht in Ihrer Absicht lag, mit der Veröffentlichung von Die Puppe aus Luft eine bestimmte religiöse Gemeinschaft anzugreifen. Anfangs wussten Sie ja nicht einmal, dass die Geschichte überhaupt etwas mit ihr zu tun hat. Sie haben Ihren Plan nur aus Übermut und Ehrgeiz entworfen. Außerdem ging es ja auch um eine nicht unerhebliche Summe Geld. Für einen gewöhnlichen Angestellten ist es schließlich nicht einfach, ständig das Geld für die Alimente und die Ausbildung der Kinder aufzubringen. Dann haben Sie noch diesen nichtsahnenden Yobiko-Lehrer mit schriftstellerischen Ambitionen namens Tengo Kawana in ihren Plan mit hineingezogen. Der Plan an sich ist sogar recht originell und witzig, Sie haben sich nur das falsche Werk und die falschen Leute dafür ausgesucht. Und die Geschichte hat den ursprünglich geplanten Rahmen gesprengt. Ihr seid wie Zivilisten, die sich an die Front verirrt haben und in ein Minenfeld getappt sind. Jetzt könnt ihr weder vor noch zurück. Ist es nicht so, Herr Komatsu?«
»Wenn Sie meinen«, erwiderte Komatsu unverbindlich.
»Sie scheinen verschiedene Dinge noch nicht richtig zu verstehen.« Der Kahle musterte Komatsu mit zusammengekniffenen Augen. »Andernfalls würden Sie nicht reden, als ginge Sie das alles nichts an. Im Klartext: Sie stehen mit beiden Beinen in einem Minenfeld.«
Komatsu nickte stumm.
Der Kahlkopf schloss die Augen und öffnete sie nach zehn Sekunden wieder. »So in die Enge getrieben zu sein ist sicher auch für Ihre Seite nicht angenehm, aber für sie ist ein viel größeres Problem daraus entstanden.«
Komatsu fasste sich ein Herz und fragte: »Würden Sie mir eine Frage beantworten?«
»Wenn ich kann.«
»Mit der Veröffentlichung von Die Puppe aus Luft haben wir also dieser religiösen Gruppe ein paar Unannehmlichkeiten bereitet. Das verstehe ich doch richtig?«
»Nicht nur ein paar Unannehmlichkeiten«, sagte der Kahlkopf und verzog leicht das Gesicht. »Die Stimmen haben aufgehört, zu ihnen zu sprechen.
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