1Q84: Buch 3
die ganze Zeit nicht bei Bewusstsein war, konnte er den Knopf ja nicht selbst gedrückt haben. Mir kam das seltsam vor, und ich bin sofort zu ihm gegangen. Aber als ich ankam, atmete er schon nicht mehr. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Also habe ich den diensthabenden Arzt geweckt, und er hat Wiederbelebungsmaßnahmen durchgeführt – ohne Erfolg.«
»Heißt das, mein Vater hat die Klingel gedrückt?«
»Wahrscheinlich. Sonst war ja niemand da.«
»Woran ist er gestorben?«
»Das kann ich nicht sagen. Aber es sah nicht so aus, als habe er gelitten. Sein Gesicht schien ganz friedlich. Wie soll ich es beschreiben – er erinnerte mich an ein Blatt, das ganz von selbst vom Baum fällt, wenn der Herbst zu Ende geht. Vielleicht drücke ich mich schlecht aus.«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte Tengo. »Ich finde deine Beschreibung sogar sehr gut.«
»Könntest du heute nach Chikura kommen, Tengo?«
»Ich denke schon.« Ab Montag würde er zwar wieder an der Yobiko unterrichten, aber schließlich war sein Vater gestorben.
»Ich nehme den ersten Express. Wahrscheinlich komme ich noch vor zehn Uhr an.«
»Dafür wären wir sehr dankbar, denn es gibt alle möglichen Formalitäten zu erledigen.«
»Formalitäten«, sagte Tengo. »Soll ich irgendetwas Bestimmtes mitbringen?«
»Bist du sein einziger Verwandter?«
»Wahrscheinlich.«
»Bring zur Sicherheit mal dein registriertes Siegel mit. Vielleicht brauchst du es. Hast du die Beglaubigung dafür?«
»Ja, ich glaube, ich habe noch ein Exemplar in Reserve.«
»Bring das zur Sicherheit auch mit. Mehr fällt mir im Augenblick nicht ein. Anscheinend hat dein Vater alles schon selbst geregelt.«
»Er hat alles selbst geregelt?«
»Ja, er hat sich bereits um alles gekümmert, als er noch bei Bewusstsein war. Von den Kosten für die Bestattung und der Kleidung, in der er beigesetzt werden möchte, bis zum Platz für sein Urnengrab. Er war ein sehr vorsorglicher, gewissenhafter Mensch. Praktisch veranlagt, könnte man sagen, oder?«
»Ja, das war er«, sagte Tengo und rieb sich die Schläfe.
»Meine Schicht endet um sieben Uhr. Ich gehe dann nach Hause und schlafe. Aber Schwester Tamura und Schwester Omura haben Frühdienst. Sie können dir alles genau erklären.«
»Vielen Dank für alles«, sagte Tengo.
»Gern geschehen«, sagte Kumi Adachi. »Und mein herzliches Beileid«, fügte sie hinzu, als sei es ihr plötzlich eingefallen.
»Danke«, sagte Tengo.
Er machte sich einen Kaffee, denn einschlafen würde er ohnehin nicht mehr können. Als er ihn getrunken hatte, war sein Kopf etwas klarer. Er bekam Hunger. Im Kühlschrank waren noch Käse und Tomaten, und er machte sich ein Sandwich. Es war, wie im Dunkeln zu essen: Er spürte, dass er auf etwas herumkaute, konnte aber fast nichts schmecken. Anschließend nahm er den Fahrplan und suchte die Abfahrtszeiten des Expresszugs nach Tateyama heraus. Nun war er erst seit Samstagnachmittag aus der Stadt der Katzen zurück und musste schon wieder dorthin. Aber diesmal würde wahrscheinlich eine Übernachtung genügen. Höchstens zwei.
Gegen vier Uhr am Morgen ging Tengo ins Bad, wusch und rasierte sich. Er versuchte sein zu Berge stehendes Haar mit der Bürste zu bändigen, scheiterte aber wie üblich. Egal, im Laufe des Vormittags würde es sich schon legen.
Der Tod seines Vaters erschütterte Tengo nicht besonders. Er hatte zwei volle Wochen am Bett des Bewusstlosen verbracht und den Eindruck gewonnen, der Vater habe seinen bevorstehenden Tod als gegebene Tatsache akzeptiert. Es klang vielleicht seltsam, aber es war, als habe er aus eigenem Entschluss den Schalter ausgeknipst und sich ins Koma versetzt. Was seinen komatösen Zustand ausgelöst hatte, wussten die Ärzte nicht. Aber Tengo wusste es. Sein Vater hatte beschlossen zu sterben. Oder den Willen zu leben aufgegeben. Er hatte – um Kumi Adachis bildhaften Vergleich zu verwenden – als Blatt eines Baumes das Licht seines Bewusstseins gelöscht, alle Türen seines Gedächtnisses abgesperrt und gewartet, dass der Winter kam.
Tengo stieg am Bahnhof Chikura in ein Taxi und kam gegen halb elf Uhr am Vormittag im Sanatorium an. Wie am gestrigen Sonntag herrschte heiteres frühwinterliches Wetter. Die warmen Sonnenstrahlen schienen, wie um den welken Rasen für seine Dienste zu belohnen. Eine dreifarbige Katze, die er noch nie gesehen hatte, lag dort in der Sonne und leckte sich gemächlich das Fell. Am Empfang hießen ihn Schwester Tamura und
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