1Q84: Buch 3
zugenommen, und ihre Rundung war weicher geworden. Wahrscheinlich lag es an ihrer Schwangerschaft. Es war Teil ihrer Verwandlung.
Sie legte sich die Hände auf den Bauch, der noch immer verhältnismäßig flach war. Aus irgendeinem Grund litt sie auch nicht unter morgendlicher Übelkeit. Aber dort drinnen war das Kleine . Das wusste sie. Könnte es sein, dachte Aomame, dass sie gar nicht so sehr hinter mir her sind, sondern hinter dem Kleinen ? Vielleicht geht es ihnen gar nicht darum, sich an mir zu rächen, weil ich den Leader getötet habe? Bei diesem Gedanken erschauerte sie. Aomame fasste neuerlich den Entschluss, Tengo unter allen Umständen zu finden. Sie mussten das Kleine mit vereinten Kräften beschützen. Vieler wertvoller Dinge hatte man sie in ihrem bisherigen Leben schon beraubt. Aber dieses würde sie niemandem überlassen.
Sie ging zu Bett und las noch eine Weile. Aber sie wurde nicht schläfrig. Sie schlug ihr Buch zu und rollte sich leicht zusammen, um ihren Unterleib zu schützen. Eine Wange ins Kissen geschmiegt, dachte sie an den winterlichen Mond am Himmel über dem Park. Und an den kleinen grünlichen neben ihm. Mother und Daughter. Das Licht der beiden Monde verschmolz und ergoss sich über die kahlen Äste des Keyaki-Baums. Tamarus Kopf arbeitete auf Hochtouren, um einen Plan zu ihrer Rettung zu schmieden. Aomame sah vor sich, wie er stirnrunzelnd mit der Spitze seines Kugelschreibers auf den Schreibtisch klopfte. Begleitet von diesem monotonen, unablässigen Rhythmus hüllte der Schlaf sie mit seiner weichen Decke ein.
Kapitel 21
Tengo
Irgendwo im Kopf
Das Telefon klingelte. Nach der Anzeige des Weckers war es 2 Uhr 04. Am Montagmorgen. Natürlich war es stockdunkel, und Tengo lag in tiefem Schlaf. In einem traumlosen, friedlichen Schlaf.
Sein erster Gedanke galt Fukaeri. Eigentlich konnte nur sie es sein. Niemand sonst würde um eine so unmögliche Uhrzeit anrufen. Doch gleich darauf erschien vor seinem inneren Auge das Gesicht Komatsus, der sich ja auch nicht gerade an die üblichen Uhrzeiten hielt. Aber das Läuten klang nicht nach Komatsu. Es war ein irgendwie dienstliches, dringliches Läuten. Außerdem hatten sie sich ja gerade erst getroffen und gründlich ausgesprochen.
Eine Möglichkeit war, das Klingeln zu ignorieren und weiterzuschlafen. Tengo hätte das auch gern getan, aber das Telefon klingelte immer weiter und ließ ihm keine Wahl. Womöglich ginge das so weiter, bis der Morgen kam. Tengo stieg aus dem Bett und nahm den Hörer ab, wobei er sich den Fuß stieß.
»Hallo?«, murmelte er verschlafen. Statt seines Gehirns schien er einen eingefrorenen Salat im Kopf zu haben. Es gab Menschen, die nicht wussten, dass man Salat nicht einfrieren durfte. Beim Auftauen verlor er nämlich jede Knackigkeit, die ja doch das Beste am Salat war, und war nur noch Matsch.
Als er sich den Hörer ans Ohr hielt, hörte er Windesrauschen. Ein launischer Windstoß, der durch ein schmales Tal wehte und das Fell einiger hübscher Hirsche sträubte, die sich über einen Bach beugten und sein klares Wasser tranken. Aber es war kein Wind, den er hörte. Es war jemandes Atem, seltsam verstärkt durch den Apparat.
»Hallo?«, wiederholte Tengo. Vielleicht ein obszöner Anrufer. Oder die Verbindung war schlecht.
»Hallo«, sagte eine Frauenstimme, an die er sich nicht erinnerte. Fukaeri war es nicht. Seine ältere Freundin auch nicht.
»Hallo«, sagte Tengo. »Hier Kawana.«
»Ah, Tengo«, sagte die Person. Anscheinend kam die Verbindung endlich zustande. Aber wer die Frau war, wusste er noch immer nicht.
»Wer spricht denn da?«
»Kumi Adachi«, sagte die Frau.
»Ach, du bist es«, sagte Tengo. Die junge Krankenschwester, in deren Haus man den Ruf der Eule hören konnte. »Was gibt es denn?«
»Hast du geschlafen?«
»Ja«, sagte Tengo. »Und du?«
Eine hirnrissige Frage. Wer schlief, konnte ja nicht anrufen. Warum redete er so einen Unsinn? Das musste an dem gefrorenen Salat liegen.
»Ich habe Dienst«, sagte sie. Dann räusperte sie sich. »Also, Herr Kawana ist gerade verstorben.«
»Herr Kawana ist verstorben«, wiederholte Tengo verständnislos. Sagte sie gerade, er sei gestorben?
»Dein Vater ist gerade verstorben, Tengo«, spezifizierte Kumi Adachi.
Ohne besonderen Grund wechselte Tengo den Hörer von der rechten in die linke Hand. »Verstorben«, wiederholte er.
»Ich hatte mich im Ruheraum hingelegt, als kurz nach eins jemand klingelte. Aus dem Zimmer deines Vaters. Da er
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