1Q84: Buch 3
hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Das scheint dich zu verunsichern. Ich kann verstehen, wie du dich fühlst. Aber du solltest lieber nicht versuchen, in diese dunkle Öffnung zu spähen. Überlass das den Katzen. Es führt dich nirgendwohin. Stattdessen solltest du lieber nach vorn schauen.«
»Das Loch muss geschlossen werden«, sagte Tengo.
»Genau das meine ich«, sagte Kumi Adachi. »Die Eule sagt das auch. Erinnerst du dich an sie?«
»Natürlich.«
DIE EULE IST DER ALLWISSENDE SCHUTZGOTT DES WALDES, SIE GEWÄHRT UNS DIE WEISHEIT DER NACHT.
»Ruft die Eule noch in dem Wäldchen?«
»Die Eule geht nirgendwohin«, sagte die Krankenschwester. »Sie ist immer dort.«
Kumi Adachi begleitete Tengo zum Zug nach Tateyama, als wolle sie sich mit eigenen Augen überzeugen, dass er wirklich einsteigen und die Stadt verlassen würde. Sie blieb auf dem Bahnsteig zurück und winkte ihm nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte.
Es war sieben Uhr am Dienstagabend, als Tengo in seine Wohnung in Koenji zurückkehrte. Er schaltete das Licht ein, setzte sich an den Esstisch und blickte sich um. Die Wohnung sah genauso aus wie am Morgen des Vortags, als er sie verlassen hatte. Die Vorhänge waren geschlossen, und auf dem Schreibtisch lag ein Ausdruck seines Manuskripts. Im Stiftebecher standen sechs sauber gespitzte Bleistifte. Das abgewaschene Geschirr stand noch in der Spüle. Die Uhr gab lautlos die Zeit an. Der Kalender an der Wand wies darauf hin, dass der letzte Monat des Jahres seinem Ende entgegenging. Die Wohnung erschien ihm stiller als sonst. Ein wenig zu still . Ihm war, als habe die Stille etwas Übertriebenes, aber das bildete er sich vielleicht nur ein. Es mochte daran liegen, dass er gerade erst Zeuge geworden war, wie ein Mensch verschwunden war. Und sich das Loch in der Welt noch nicht ganz geschlossen hatte.
Er trank ein Glas Wasser, dann nahm er eine heiße Dusche, wusch sich gründlich die Haare, reinigte sich die Ohren und schnitt sich die Fingernägel. Er nahm frische Unterwäsche und ein neues Hemd aus der Schublade und zog sie an, um die verschiedenen Gerüche loszuwerden, die an seinem Körper hafteten. Die Gerüche aus der Stadt der Katzen. Wir mögen dich natürlich alle sehr gern, aber das hier ist kein Ort, an dem du ewig bleiben solltest, hatte Kumi Adachi gesagt.
Er hatte keinen Appetit. Er konnte sich nicht aufraffen zu arbeiten, und Lust zu lesen oder Musik zu hören hatte er auch nicht. Er fühlte sich körperlich erschöpft, aber seine Nerven waren eigentümlich gereizt. Auch wenn er sich jetzt hinlegte, würde er nicht schlafen können. Die Stille, die über allem lag, hatte wirklich etwas Gekünsteltes.
Wenn wenigstens Fukaeri hier wäre, dachte Tengo. Nach so langer Zeit hätte er gern ihre monotone Stimme gehört, auch wenn sie auf ihre unvermeidliche rätselhafte Art und ohne Fragezeichen gesprochen hätte. Aber er wusste genau, dass Fukaeri nicht mehr in seine Wohnung zurückkehren würde. Weshalb er das so genau wusste, konnte er sich nicht erklären. Aber zurückkommen würde sie nicht mehr. Höchstwahrscheinlich nicht.
Er hätte gern mit jemandem gesprochen, ganz gleich mit wem. Am liebsten mit seiner älteren Freundin. Aber er konnte sie nicht erreichen. Er wusste nicht, wo sie war; nach Aussage ihres Mannes war sie verlorengegangen .
Er rief Komatsus Nummer im Verlag an. Die Durchwahl, die ihn direkt mit seinem Schreibtisch verband. Aber niemand hob ab. Nachdem er es fünfzehn Mal hatte klingeln lassen, gab er auf.
Er überlegte, wen er sonst noch anrufen könnte. Aber es fiel ihm absolut niemand ein. Er dachte an Kumi Adachi, aber dann wurde ihm bewusst, dass er ihre Nummer nicht hatte.
Dann dachte er an das dunkle Loch, das es irgendwo auf der Welt noch gab. Es war kein sehr großes Loch. Aber sehr tief. Vielleicht konnte er, wenn er sich darüberbeugte und mit lauter Stimme rief, noch einmal mit seinem Vater sprechen? Würde der Tote ihm die Wahrheit sagen?
Es führt nirgendwohin, wenn du das tust. Stattdessen solltest du lieber nach vorn schauen, hatte Kumi Adachi gesagt.
Nein, das finde ich nicht, dachte Tengo. So einfach ist das nicht. Vielleicht bringt es mich nicht weiter, wenn ich das Geheimnis kenne. Aber ich muss wenigstens wissen, warum nicht. Vielleicht bringt es mich weiter, den Grund zu kennen.
»Ob du mein richtiger Vater bist oder nicht, tut nichts mehr zur Sache«, sagte Tengo in das dunkle Loch. »Inzwischen ist mir das völlig egal. In
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