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bezieht auch die Geschichte der USA mit ein. In seinem pathetischen Erläuterungstext beschreibt Libeskind, wie er als jugendlicher Einwanderer zum ersten Mal die Freiheitsstatue und die Skyline von New York sah und darin die Ideale Amerikas erkannte. Die Freiheitsstatue erhebt er deshalb zur wichtigsten Referenz seines Entwurfs. Der Abschluss seines »Gardens of the World« ist eine nach oben schießende Spitze, die dem Gebäude eine Gesamthöhe von 1776 Fuß verleiht – 1776 wurde die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verkündet.
Die Jury ist begeistert. Lebendiges Treiben und lebensfrohe Dynamik als Antwort auf den Terroranschlag. Und wie einst die Twin Towers wäre der neue Turm das höchste Gebäude der Stadt.
Libeskind gewinnt den Wettbewerb.
Schnell ist der klangvolle Name »Freedom Tower« etabliert. Silverstein will allerdings mehr attraktive Büroflächen – Symbolwert hin oder her. Ohnehin möchte er lieber seinen Hausarchitekten David Childs von SOM engagieren. Libeskind, so argumentiert er, habe zu wenig Erfahrung mit Hochhäusern und solle deshalb den Entwurf noch einmal überarbeiten. Am besten gemeinsam mit Childs.
Im September 2003 stellen sie die überarbeitete Version vor, die wesentlich einfacher ausfällt als der ursprüngliche Entwurf – zum Unbehagen Libeskinds, der nach langem Streit schließlich aufgibt und sich aus dem Projekt zurückzieht. Im Juli 2005 präsentiert Childs dann einen völlig neuen, sehr pragmatischen Entwurf. »Ich betreibe den Beruf nicht, um die Kritiker zu beeindrucken oder um Philosophien zu verwirklichen«, erklärt er, »ich will die Wünsche des Bauherrn erfüllen und die technischen Probleme lösen. In diesem Fall haben wir es mit einer Menge Wünsche und Probleme zu tun.«
Neben mehr Bürofläche bietet sein Entwurf verbesserte Sicherheitsvorkehrungen. Der sechzig Meter hohe Sockel ist so ausgelegt, dass er auch vor mit Bomben beladenen Lastwagen schützt. Zu Beginn war er komplett aus Beton geplant, inzwischen wird er weniger massiv ausgeführt. Und entgegen dem ursprünglichen Masterplan steht der Turm jetzt nicht mehr direkt an der Straße, sondern ist aus Sicherheitsgründen zwanzig Meter zurückgesetzt.
Dieses Gebäude ist kein Sinnbild des American Dream, sondern ein Bollwerk. Geblieben ist nur die Höhe – und der inoffizielle Name: »Freedom Tower«.
2006 wurde Tower 7 als erstes neues Gebäude auf Ground Zero fertiggestellt. Zweiundfünfzig Stockwerke. Der Hauptbau des neuen World Trade Centers, Tower 1, ist noch nicht so weit, es stehen erst sieben Etagen. Die Baustelle ist mit Zäunen abgesperrt, die gleichzeitig als Werbeflächen für die neuen Immobilien dienen. In fotorealistischen Computersimulationen kündigt Silverstein Properties weitere Hochhäuser an: World Trade Center 2, 3, 4 und 5.
Mikael und Syana gehen um die Baustelle herum, Mikael bleibt vor einem der großen Renderings stehen, die auf dem Bauzaun abgebildet sind.
»Das ist Ground Zero? Architektonisch ist das ja wohl die gähnende Langeweile.«
»Richtig, aber um Architektur geht es hier nicht. Das Ganze hat eher was von Monopoly. Es geht um Immobilien und um viel Geld. Wie immer in New York. Weißt du, dass Silverstein sich mit den Versicherungen gestritten hat? Die wollten nämlich nur für einen Terroranschlag zahlen.«
»Es war doch ein Terroranschlag!«
»Klar. Larry Silverstein meinte aber: zwei Flugzeuge, zwei Anschläge. Also die doppelte Summe. Da ging es um neun Milliarden Dollar.«
»Und wie ist die Sache ausgegangen?«
»Am Ende gab es mehrere Prozesse, weil ja auch mehrere Versicherungen beteiligt waren. Gegen eine hat er den Prozess gewonnen, gegen eine andere verloren.«
Syana zeigt auf den gigantischen Rumpf des neuen World Trade Centers hinter dem Zaun. »Das Gebäude heißt jetzt übrigens doch nicht ›Freedom Tower‹.«
»Echt nicht? Warum denn? Das ist doch ein prima Name. Immerhin wird da das Geld verdient, mit dem die Amerikaner dann anderen Völkern die Freiheit bringen. Ihre Freiheit.«
»Das war die Idee, aber man hatte die Rechnung ohne die Chinesen gemacht. Ein chinesischer Investor hat mehrere Etagen gemietet, mit dem Namen ›Freedom Tower‹ konnte er sich allerdings nicht identifizieren. Jetzt heißt das Ding nur noch ›One World Trade Center‹. Silverstein hat Angst, dass er sonst keine Mieter findet.«
»Schau mal, da oben.«
»Oh, schick. Eine Monacor EPTZ-3650. Eine der besten Überwachungskameras, die es derzeit gibt.
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