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erreichen. Am Vorabend haben sie sich gestritten. Ausgerechnet über Ground Zero. Nun will er sich mit ihr versöhnen und seinen Erfolg feiern. Tom reserviert einen Tisch für zwei, das Restaurant ist eine Empfehlung aus der New York Times , wahrscheinlich viel zu teuer. Aber es ist ja ein besonderer Anlass.
Er versucht es noch mal bei Jennifer, aber ihm fällt ein, dass sie in der Bibliothek das Telefon immer abschaltet. Er hinterlässt die Einladung zum Essen auf ihrer Mailbox. Einen Grund nennt er nicht, nur den Namen des Restaurants. Es soll eine Überraschung werden.
Aufgeregt läuft Tom weiter zur Baustelle des One World Trade Centers, sucht einen Standpunkt, von dem aus er das Treiben überblicken kann, die Lastwagen, die mit Materialien ein- und ausfahren, die Kräne, die Stahl in die Höhe hieven, die Arbeiter, die die einzelnen Abschnitte betreuen. Sein Blick bleibt an den fotorealistischen Darstellungen des neuen Hochhauses hängen, die auf dem Bauzaun angebracht sind.
Tom und Jennifer sind seit einem Jahr zusammen. Tom hat sich in sie verliebt, weil sie klug und schön ist. Blond, groß und zierlich, mit blassgrünen Augen – einfach perfekt.
Kennengelernt haben sie sich während einer Alumni-Tagung in Princeton, es ging um die Beziehung von Kunst und Architektur. Ein anderer Ehemaliger hatte sie zu der Veranstaltung mitgebracht, schnell kamen sie ins Gespräch und verabredeten sich für den nächsten Tag zum Essen.
Sie wurden nicht sehr persönlich, es war eher ein intellektueller Austausch. Und so blieb es auch bei den folgenden Treffen. Aber das passte Tom ganz gut, er wollte ohnehin nicht über seine Erlebnisse in Afghanistan und im Irak reden. Irgendwann hat sie sich in ihn verliebt, nicht schlagartig, sondern ganz langsam und vorsichtig. Sie passen eigentlich nicht zusammen, haben unterschiedliche politische Vorstellungen und getrennte Freundeskreise. Dass sie sich in ihn verliebt hat, erscheint Tom immer noch als ein Wunder.
Bisher war Jennifer eher mit extrovertierten Künstlern zusammen, denen die Beziehung mit ihr Halt gab. Dass sich hinter ihrer kommunikativen Fassade ein verunsichertes Wesen versteckt, wissen nur ihre engsten Freunde, meistens nutzt sie ihre Intelligenz als Schutzschild. Bei Tom aber fühlt sie sich geborgen. Auf eine unheimliche Weise strahlt er Sicherheit aus.
Ihre beste Freundin unterstellt ihr, sie sähe in Tom nicht den Freund, sondern einen Ersatz für den verlorenen Vater. Vielleicht hat die Freundin recht. Aber Jennifer hängt an Tom, obwohl sie vieles an ihm ablehnt. Eine Beziehung auf Augenhöhe ist es auf jeden Fall nicht.
Gerade hat er versucht, sie anzurufen, aber sie hat keine Lust, mit ihm zu sprechen. Gestern haben sie sich gestritten, wieder über Politik, wieder über Amerika. Besser gesagt: Jennifer hat sich gestritten, Tom ist wie immer ruhig geblieben, was Jennifer bloß noch mehr aufregt hat. Am Ende war sie so wütend, dass sie die Tür zugeknallt und zu Hause übernachtet hat. Nun lädt Tom sie zum Abendessen ein. Jennifer lächelt. Wahrscheinlich will er sich versöhnen.
Das Restaurant befindet sich in der Lower East Side, versteckt in einem kleinen Hinterhof. Tom wartet bereits seit einigen Minuten, als Jennifer den Hof betritt. Sie begrüßt ihn mit einem verhaltenen Lächeln und einem flüchtigen Kuss. Keine Umarmung. Das Restaurant hat er wegen der französischen Küche ausgewählt, ein kleiner Gruß an Jennifers europäische Heimat. Jennifer ist irritiert, sie hat etwas weniger Extravagantes erwartet.
»Findest du das hier nicht etwas übertrieben?«
»Immerhin gibt es etwas zu feiern. Und lass uns den Streit einfach vergessen, ja?«
Es gibt zwei Menüs, eins mit und eins ohne Fleisch. Jennifer entscheidet sich für die vegetarische Variante, Tom für die mit Fleisch.
»Jetzt spann mich doch nicht so auf die Folter. Was ist denn das für eine geheimnisvolle Neuigkeit?«
Der Kellner bringt den Wein, Tom probiert mit gespielter Kennermiene. Von der Bewerbung hatte er ihr nichts erzählt. Er steht nicht gerne als Verlierer da, und er wusste ja nicht, ob er den Job bekommen würde.
»Ich hatte heute ein Vorstellungsgespräch. Und ich habe den Job!«
»Wow. Herzlichen Glückwunsch!« Die beiden stoßen an. »Auf deinen neuen Job, Mr. Architect. In welchem Büro?«
Jetzt wird es schwierig. Tom will sich nicht schon wieder mit ihr streiten, zumal er in Diskussionen eh immer den Kürzeren zieht. Noch so ein Grund, warum er ihr nichts von
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