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1WTC

1WTC

Titel: 1WTC Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich von Borries
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dem Vorstellungsgespräch erzählt hat. Aber jetzt kann er es nicht mehr verheimlichen. Außerdem ist er stolz.
    »Willst du raten?«
    »Na gut, also … Du hast einen Job bei … Keine Ahnung. Du musst mir einen Tipp geben.« Sie geht im Kopf die aktuellen Bauprojekte in New York durch. Plötzlich ist es ihr klar. Deshalb hat er ihr also nichts davon erzählt! Jennifer beißt sich auf die Lippe, damit sie nicht gleich in die Luft geht.
    2004 wird ein Konzept für eine Gedenkstätte auf Ground Zero ausgewählt. Neben dem eigentlichen 9/11-Memorial sieht es ein weiteres Museum vor, das International Freedom Center. Es soll sich für die Freiheit aller Völker der Erde einsetzen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentieren, unter anderem den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern sowie die Sklaverei in den USA. Nach einer Vielzahl von Protesten, vor allem von Angehörigen der 9/11-Opfer, stoppt George Pataki, der Gouverneur von New York, 2005 die Pläne. Das neue Gedenkkonzept wird den Anforderungen der Kritiker eher gerecht: Kein Raum für kontroverse Debatten, kein Dialog, keine Kunst und keine historischen Ausstellungen ohne direkten Bezug zu 9/11.
    Jennifers Gesichtsausdruck verfinstert sich. Sie hat das ursprüngliche Museumskonzept befürwortet, eine selbstkritische Perspektive und den Blick über den historischen Tellerrand fand sie mehr als angemessen. Tom dagegen ist Anhänger des neuen Konzepts, das sich allein auf Ground Zero beschränkt. Ihr ist das neue Museum zu nationalistisch, Tom nennt es patriotisch.
    »Okay, ich gebe dir einen Tipp. Du wirst meinen neuen Job nicht besonders mögen.«
    »Kann ich mir denken. Wie heißt noch mal der junge Architekt, der den Wettbewerb für das 9/11-Museum gewonnen hat?«
    »Michael Arad. Nein, bei dem werde ich nicht arbeiten. Aber die Richtung stimmt schon mal.«
    »Also irgendetwas mit Ground Zero?«
    »Ja. SOM. 1 WTC.«
    »Was?« Am Nachbartisch drehen sich die Leute nach Jennifer um. »Und was genau soll da dein Job sein? Das Gebäude wird doch schon gebaut?«
    »Es geht um den Serverraum im Keller. Irgendwas mit der Steuerung des Gebäudes, Heizung, Kühlung, Sicherheitsanlagen. Irgendwo an der Schnittstelle zwischen Ingenieuren und Architekten. Und jetzt reg dich bitte nicht so auf, das ist ein geiler Job.«
    »Geiler Job? Schnittstelle? Du gehst jetzt in die Sicherheitsbranche? Soll ich dich mal an deine hochtrabenden historischen Ausführungen erinnern?«
    »Wart’s halt mal ab. Das neue World Trade Center wird eines der wichtigsten Gebäude der Welt. Für mich ist das die Revolutionsarchitektur der Gegenwart.«
    »Also, wenn das die Revolutionsarchitektur der Gegenwart sein soll, was ist daran dann die Revolution? Wofür steht denn das blöde Ding? Für die Macht der Ökonomie, und für sonst nichts. Architekturpornos für die Weltherrschaft des Kapitals. Tom, wir erleben gerade das Gegenteil von Revolution. Stillstand. Rückschritt. Ende der Freiheit. Das ist keine Revolutionsarchitektur. Das ist einfach alles – Scheiße!«
    Jennifer wird laut. Sie ist enttäuscht. Von Tom, aber noch viel mehr von sich selbst. Das Paar am Nebentisch beginnt zu tuscheln.
    »Du immer mit deinen politischen Ansprüchen. Architekten sind nicht politisch. Sie machen einfach gute Räume, gute Fassaden. Gute Architekten spüren, wenn die Zeiten sich ändern, und dann finden sie dafür eine entsprechende Form.« Tom atmet durch, lehnt sich in den Stuhl zurück. Der Kellner bringt die Vorspeise.
    Jennifer hat jetzt genug. »Danke für die Einladung. Ich gehe nach Hause.« Sie steht auf und geht in aller Ruhe zur Garderobe. Nachdem sie ihren Mantel angezogen hat, wirft sie Tom noch einen Blick zu und verlässt das Restaurant.
    Die New York Public Library an der 5th Avenue ist die zweitgrößte Bibliothek der USA und eines der letzten erhaltenen Beaux-Arts-Gebäude in New York. Die Bibliothek, so schrieb die New York Times anlässlich der Eröffnung 1911, repräsentiere das Verlangen der USA, im kulturellen Wettbewerb mit Europa bestehen zu können. Heute ist sie ein Ort des Austauschs, der allen offen steht.
    Mikael betritt die Bibliothek durch den Haupteingang. Er durchquert die Eingangshalle und nimmt eine der pompösen Treppen, die zum höher gelegenen Lesesaal führen. Durch den Katalograum geht Mikael weiter zum Hauptlesesaal. Hunderte Menschen sitzen mit ihren Büchern an den Tischen, einige sind eingeschlafen. In der Mitte, gleich dem Lettner einer gotischen

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