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1WTC

1WTC

Titel: 1WTC Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich von Borries
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Kathedrale, die Buchausgabe.
    Große Kronleuchter lenken die Aufmerksamkeit zu den Gemälden an der Decke. Himmelslandschaft mit dunklen Wolken, die aufbrechen und den Blick ins Licht freigeben. Fast wie in einer barocken Kirche, nur dass der hier dargestellte Himmel nicht Gott, sondern die Aufklärung repräsentiert. Hier wohnen keine Engel, hier regieren Licht und Schatten, Wissen und Unwissen.
    Durch breite Türen hindurch geht es zum zweiten Lesesaal. Auch hier sind die Decken aufwendig bemalt, auch hier keine Engel, keine Heiligen, kein Gott. Aber diesmal ist der Himmel nicht dunkel und bedrohlich, sondern licht und leicht, die aufgehende Morgensonne taucht die Wolkengebilde in zartes Rosa.
    Mikael holt die bestellten Texte – Material zu 9/11 – an der Buchausgabe ab und setzt sich damit an einen der Lesetische.
    Als er nach einer Weile von seiner Lektüre aufblickt, sitzt ihm eine blonde Frau gegenüber. Anfang, vielleicht Mitte dreißig, auffallend ebenmäßiges Gesicht und grüne Augen. Sie trägt eine weiße Bluse und einen knielangen schwarzen Rock. Strenger Gesichtsausdruck, schmale Nase, elegante Wangenknochen. Vor ihr liegt ein Stapel Bücher, französische Kunst der siebziger und achtziger Jahre. Darunter einiges über Sophie Calle.
    Jennifer ist fast jeden Tag in der Bibliothek und arbeitet an ihrem PhD. Sie liest, macht Notizen, sucht neue Quellen und Referenzen. Zwischendurch beobachtet sie die Besucher. Denkt sich in das Leben der anderen hinein, versucht, sich anhand ihrer Bücher die fremden Gedanken, Gefühle, Lebenswelten vorzustellen. Ihr eigenes Leben würde sie im Moment am liebsten vergessen. Die beiden letzten Abende haben sie einfach nur verwirrt. Toms zahlreiche SMS hat sie nicht beantwortet.
    Auf dem Weg von der Bücherausgabe bleibt ihr Blick an einem jungen Mann hängen, vielleicht, weil er so aussieht wie das Gegenteil von Tom. Eher schlaksig und alles andere als selbstsicher. Er strahlt etwas Suchendes aus. Gerade wird an seinem Tisch ein Platz frei, leise setzt sie sich zu ihm.
    Sie studiert seinen konzentrierten Gesichtsausdruck und seine unordentlichen Haare. Wer? Warum? Woher? Kein Amerikaner. Auch kein Wissenschaftler, dafür blättert er zu unstrukturiert in den Büchern. Ernsthaft interessiert, aber chaotisch. Irgendwie sympathisch. Er hat sich Bücher über 9/11 ausgeliehen.
    Der Mann schaut in ihre Richtung, wendet den Blick dann zur Decke. Er ist unruhig, traut sich nicht, sie offen anzusehen. Sie lächelt in sich hinein. Sie ist es gewohnt, dass Männer ihr nachkucken. Manchmal stört sie das, jetzt genießt sie es.
    Europäer wahrscheinlich. Kein Südeuropäer, kein Franzose. Zu schlecht gekleidet. Holländer. Vielleicht auch Pole. Oder Deutscher.
    Wahrscheinlich Kunsthistorikerin. Auf die Texte über 9/11 kann er sich nicht mehr konzentrieren. Er versucht, sich unauffällig zu verhalten, starrt aber immer wieder in ihre Richtung. Ihre Lippen sind voll, nur wenn sie angestrengt liest, werden sie dünn.
    Vielleicht Künstler. Oder doch Kunsthistoriker? Jennifer merkt selbst, dass sie anfängt, etwas auf ihn zu projizieren. Wie bei Tom. Nicht schon wieder. Der Mann ist in seine Texte vertieft. Sie packt ihre Sachen zusammen und rutscht so leise und unauffällig von ihrem Stuhl, wie sie gekommen ist.
    Als Mikael das nächste Mal aufschaut, ist die Frau verschwunden. Immer dasselbe.
    Am Abend erhält Tom eine SMS von Jennifer. »Es ist aus.« Mehr nicht. Kurz und trocken.
    Die Nacht verbringt er am Computer. Schaut sich alte Fotos an. Liest die Mails, die sie sich geschrieben haben. Er hält es nicht mehr aus. Raus auf die Straße, es ist die Zeit der Unsichtbaren, die im Hintergrund die Dinge am Laufen halten und sich jetzt, solange die anderen noch schlafen, schon auf den Weg zur Arbeit machen. Putzfrauen, Tellerwäscher, Lastwagenfahrer. Tom kehrt erst in seine Wohnung zurück, als der Morgen anbricht. Die aufgehende Sonne wirft ein grelles Orange an den Himmel. Verstreute Partygänger kommen nach Hause, die ersten Jogger ziehen ihre Runden.
    Zum Mittagessen ist Tom verabredet. Sunner, sein alter Vorgesetzter, hat vor ein paar Tagen bei ihm angerufen und ein Treffen vorgeschlagen. Er meldet sich nur selten, am liebsten würde Tom die Verabredung absagen. Aber Sunner hatte bei dem Veteranenstipendium seine Hände im Spiel und auch ein Referenzschreiben für die neue Stelle besorgt.
    Wie immer treffen sie sich in einem Pub in Manhattan. Tom hat Kopfschmerzen. Er zögert,

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