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1WTC

1WTC

Titel: 1WTC Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich von Borries
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Ausdruck, sondern durchdringt noch das subtilste Gestaltungselement, das Architekten zur Verfügung steht: die Maßstäblichkeit. Alle Türen, Fenster und Treppenstufen sind um einige Prozent vergrößert. Der Rechtsuchende fühlt sich noch kleiner, als ein Mensch in einem so großen Gebäude es ohnehin schon ist. Nichts ist größer als die vom König eingesetzte Macht der Justiz. Der Brüsseler Justizpalast ist ein absolutistisches Gebäude.
    Inzwischen hat Belgien beantragt, den Brüsseler Justizpalast aufgrund der genialen architektonischen Leistung in die Liste der Weltkulturerbestätten der Unesco aufzunehmen.
    Tom ist viel durch Europa gereist. Er besichtigte die faschistischen Bauten Mussolinis, die römischen Amphitheater, in denen sich Menschen in Gladiatorenkämpfen zu Tode quälten, das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg und weitere Bauten und Entwürfe Albert Speers, die, so Speers Plan, auch als tausendjährige Ruinen nichts von ihrer erdrückenden Präsenz eingebüßt haben würden.
    Toms Kommilitonen verstanden sein Interesse für die Architektur der Macht damals nicht. Konnten sie auch nicht, denkt er heute, immerhin hatte keiner von ihnen einen Krieg erlebt. Die meisten hatten wohlhabende Eltern, die alle Gefahren und alles Beschwerliche stets von ihnen fernhielten. Das Studium mussten sie sich nicht selbst verdienen, sondern sie bekamen es geschenkt. Keiner hatte die Gefängnisse in Afghanistan gesehen, in denen die Taliban und andere Widerstandskämpfer festgehalten wurden. Und es hatte auch keiner von ihnen im Irak gekämpft. Diese Welt kannten sie nicht. Und Tom hätte es ihnen auch nicht gewünscht.
    Er hatte seine architektonische Sozialisierung nicht in den Villen von Long Island oder den Einfamilienhäusern der Suburbs erfahren. Er hatte die Verließe und Paläste von Saddam Hussein gesehen, kitschige, pompöse Architektur, die die Günstlinge des Diktators beeindruckte und zugleich einschüchterte. Und er kannte die Lager, die die Amerikaner und ihre Alliierten für die Gefangenen im Irak, in Afghanistan und an anderen Orten in der ganzen Welt eingerichtet hatten.
    Manche Soldaten haben sich nach dem Krieg sozialen Fragen gewidmet. Aufbauhilfe, Entwicklungshilfe. Aber Tom will von der Architektur etwas anderes. Architektur ist für Tom etwas Heiliges. Die Mutter aller Künste. Aber auch eine verführerische Kunst. Eine Kunst, die etwas wie Washington hervorzubringen vermag, das räumliche Abbild der amerikanischen Gesellschaftsordnung, in der sich das demokratische Raster mit absolutistischem Strahlen vereint. Und Manhattan, das gebaute Manifest des Erfindungsreichtums und der wirtschaftlichen Aktivität, ausgeführt in Stahl, Glas und Beton. Die mutige Konstruktion der Brooklyn Bridge, das Empire State Building, die kristallinen Türme Mies van der Rohes und das fast barock geschmückte Chrysler Building aus der Zeit des Art déco. Sinnbilder des amerikanischen Strebens nach Freiheit und Wohlstand. Er liebt diese Stadt und ihre Architektur.
    Er schaut aus dem Fenster und betrachtet die gegenüberliegende Fassade. Neoklassizismus des 19. Jahrhunderts. So versuchte man damals, dem jungen Kapitalismus die Legitimität des alten Europa zu verleihen.
    Sein Blick schweift zurück zu den Entwürfen von SOM, die an den Wänden hängen. Von den fünfziger bis in die siebziger Jahre hatte SOM sich der Moderne verschrieben. Eine universale Architektur, die überall ihre Gültigkeit hat. Stahl und Glas, klare, kubische Formen. Keine Spielereien, sondern Strenge. Nicht dekorativ, sondern asketisch. Aber diese Zeit der universalen Ideen ist endgültig vorbei. Heute zählen Macht und Gewalt. Und deshalb sucht SOM nach einer neuen Architektursprache.
    Tom schaut auf die Uhr. Noch zehn Minuten.
    Revolutionsarchitektur. Im Vorfeld der Französischen Revolution entstandene utopische Architektur, die sich durch die Monumentalisierung autonomer Formen auszeichnete. Kugel, Würfel, Zylinder. Jenseits des Anspruchs, tatsächlich realisiert zu werden, sollte diese Architektur Geschichten erzählen, weshalb sie auch als architecture parlante bezeichnet wurde. Bedeutendste Vertreter: Étienne-Louis Boullée (1728-1799) und Claude-Nicolas Ledoux (1736-1806). Die Revolutionsarchitektur wird in enge Verbindung mit den gesellschaftspolitischen Idealen der Aufklärung gebracht. Die Bezeichnung als Revolutionsarchitektur setzt sich aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch, als der Kunst- und Architekturtheoretiker

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