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weiter im Vorzimmer des Büroleiters von SOM. Er hat sich um eine Stelle im Bereich Sicherheitsarchitektur beworben. Zweihundert Kandidaten, zehn sind in die zweite Runde gekommen. Gleich beginnt sein Vorstellungsgespräch. Er ist eine halbe Stunde zu früh in das Büro in der Wall Street gekommen. Ein anderer Bewerber wurde gerade erst hineingerufen. Tom versucht, sich auf das Gespräch vorzubereiten.
SOM, Abkürzung für Skidmore, Owings and Merrill. Architektur- und Ingenieurbüro, 1936 von Louis Skidmore (1897-1962) und Nathaniel Owings (1903-1984) in Chicago gegründet. 1939 stieß der dritte Partner hinzu, John O. Merrill (1896-1975). Bereits 1937 hatte die Firma eine Zweigstelle in New York eröffnet.
SOM wurde mit Stahl-Glas-Konstruktionen im International Style berühmt und ist heute eines der größten Architekturbüros der Welt. SOM agiert global und passt sich den politischen und geschmacklichen Vorstellungen der jeweiligen Bauherren flexibel an. SOM ist stilistisch nicht festgelegt, sondern steht für eine narrative Architektur des modernen Eklektizismus, der mit Gebäuden Geschichten über die Bauherren – oder deren Selbstbild – erzählt. Im Moment betreut SOM nicht nur den Bau des One World Trade Centers in New York, sondern auch des neuen Hauptquartiers der NATO in Brüssel. Auch hier benutzt SOM eine sehr direkte architektonische Metapher: Die einzelnen Trakte des Gebäudes sind so angeordnet, dass sie den ineinander verschränkten Fingern zweier Hände ähneln, um so die Vielschichtigkeit der Organisation und die wechselseitige Abhängigkeit ihrer Mitglieder zu versinnbildlichen. Die Fertigstellung des Gebäudekomplexes ist für 2015 geplant.
Im Laufe seines mehr als siebzigjährigen Bestehens errichtete SOM mehrmals das höchste Gebäude der Welt, zum Beispiel 1974 den Sears Tower in Chicago und 2010 das 828 Meter hohe Burj Khalifa in Dubai.
Toms Gedanken schweifen ab. Eltern, Schule, Militärzeit. Das Studium, seine Heimatstadt, Irak, Afghanistan. New York. Schon in der Highschool fasziniert ihn die Idee, mit Architektur den Menschen zu verändern, ja einen neuen Menschen zu schaffen.
An den Wänden des Flurs hängen Darstellungen der letzten Wettbewerbsbeiträge, gerahmt, hinter entspiegeltem Glas. Schlechte Architektur, findet Tom. SOM war noch nie sein Lieblingsbüro. Zu stromlinienförmig, immer am ästhetischen Mainstream orientiert, billige Investorenarchitektur. Aber trotzdem bedeutend. Auch wenn er den Entwurf für Ground Zero nicht spannend findet, bleibt es die derzeit wichtigste Baustelle der Welt. Ökonomisch und politisch, schließlich wird hier der Anspruch Amerikas auf Hegemonie mit den Mitteln der Architektur verteidigt. Und Tom hat sich schon immer für die Architektur der Macht interessiert.
Das Bauhaus, Le Corbusier, Walter Gropius, Frank Lloyd Wright. Alles wichtig, alles gut. Tom hat sich während des Studiums auf andere Themen konzentriert. Ein Semester verbrachte er in Belgien, um die Architektur des Justizpalastes in Brüssel zu untersuchen. Ein leichter Schauer läuft ihm über den Rücken, als er sich an das Gefühl erinnert, das ihn beim ersten Betreten des Baus mit seinen Säulenreihen, den teuren Materialien und der gigantischen Kuppel überkam.
Brüsseler Justizpalast, 1866 bis 1883 vom belgischen Architekten Joseph Poelaert (1817-1879) im Stil des klassischen Eklektizismus erbaut. Das Gebäude steht am früheren Brüsseler Galgenplatz und ist eines der größten Gebäude, die im 19. Jahrhundert errichtet wurden. Getragen wird es von einer innenliegenden Metallkonstruktion, damals eine technologische Innovation. Stabil und unsichtbar. Errichtet wurde der Justizpalast auf Geheiß von König Leopold II., der vor allem als Zerstörer des Kongo berühmt wurde. Unter seiner Regent- und Ausbeuterschaft – zeitweise führte er den Kongo als Privateigentum – starben schätzungsweise zehn Millionen Menschen.
Der Justizpalast sprengte mit seiner über hundert Meter hohen Kuppel nicht nur den Maßstab der damaligen Brüsseler Baustruktur, sondern auch den seiner Benutzer. Genau das war die Absicht. Der Palast ist kein demokratisches Gebäude, er dient nicht der Ermächtigung des Volkes – im Gegenteil: Der Bau verkörpert die Auffassung, dass Recht nicht der Umsetzung egalitärer Gerechtigkeit dienen soll, sondern einzig und allein dazu, die Macht der Herrschenden zu stützen. Dies findet nicht nur in Fassaden, Säulenordnungen und dem Ausmaß der Kuppel seinen
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