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Eingang hat sich bereits eine Menschentraube gebildet. Ausgestellt sind achtzehn Künstlerinnen und Künstler, manche bekannt, andere eher unbekannt, die in ihren Arbeiten dieselben Themen verhandeln wie die Civil Liberties Union: Zensur, Überwachung, Meinungsfreiheit, aber auch Migration und Rassismus. An den Wänden Gemälde, Zeichnungen, Videoarbeiten. Über Lautsprecher wird die Eröffnungsrede in alle Winkel des Raums übertragen. Die Exponate werden in einer Silent Auction versteigert. Arbeit um Arbeit wird aufgerufen, die Bieter schreiben ihre Gebote auf einen Zettel und geben diesen ab. Jeder muss sich unabhängig vom Verhalten der anderen überlegen, wie viel er für die Arbeit ausgeben möchte. Das höchste Gebot gewinnt.
Mikael kämpft sich ins Zentrum des Ausstellungsraums vor. Wegen der vielen Besucher kann er nur Bruchstücke der Rede verstehen, Satzfetzen über »die Kraft der Kunst«, »Glamour« und »soziale Verantwortung«. Ihn interessieren weniger die Arbeiten als die Stimmung im Raum, die leisen Gespräche und lauten Gerüchte. Manche Bieter sind eher zurückhaltend, andere wiederum fast prahlerisch, wedeln mit den Gebotszetteln: Die Gewinner präsentieren sich als großzügige Spender, die Veranstalter sind stolz auf jede eingeworbene Summe, auch wenn manche Arbeiten unter Wert weggehen. Die Künstler verabschieden sich von ihren Werken und führen höfliche Gespräche mit Interessenten.
Nach einer halben Stunde hat er alles gesehen. Die ausgestellten Künstler arbeiten ähnlich wie die Berliner Kollegen. Eine Zeichnung mit Folterszenen hat ihn besonders beeindruckt. Das nächste Mal will er hier auch mit dabei sein, natürlich mit dem Projekt, an dem er gerade arbeitet.
Mikael ist schon auf dem Weg zum Ausgang, als er am anderen Ende des Raums eine schwarzgekleidete Frau entdeckt. Kurzer Rock, schulterfreies T-Shirt, Schuhe mit hohen Absätzen. Die Frau aus der Bibliothek.
Jennifer ist schlecht gelaunt. Seit sechs Stunden ist sie im Twelve21. Sie hat beim Aufbau geholfen, aufgeregte Künstler beruhigt, Journalisten beim Presserundgang umgarnt. Jetzt ist sie müde. Sie hat mit allen Leuten gesprochen, mit denen sie sprechen wollte. Oder musste. Sie würde jetzt gerne nach Hause gehen, wartet aber noch auf Tom. Auch wenn sie das niemals zugeben würde: Mit der SMS hatte sie ihm eine letzte Chance geben wollen.
Die spannenden Arbeiten sind schon versteigert, ihr Favorit allerdings noch nicht, eine Zeichnung zu Abu Ghuraib. In Gedanken ist sie ohnehin woanders. Nicht bei der Kunst, und auch nicht bei Tom. Sondern bei dem Mann aus der Bibliothek. Plötzlich taucht ein Gesicht vor ihr auf.
Er lächelt sie an, sie lächelt zurück. »Bibliothek?«
Er nickt.
Verlegenes Schweigen.
»Interessant hier, oder?«
»Na ja, geht so.«
»Ich bin Mikael.«
»Jennifer.«
»Und wie kommst du hierher? Bist du Künstlerin?«
»Künstlerin? Nein, ich bin Kunsthistorikerin. Ich arbeite hier, als Freiwillige.«
»Deshalb die Bücher über französische Kunst.«
»Ah, mein Bücherstapel.« Sie lacht. »Ich schreibe gerade meine Doktorarbeit über Sophie Calle.«
»Die Detektivsachen sind gut. Wie heißen die noch mal?«
»›The Shadow‹? Bist du auch Kunsthistoriker? Siehst gar nicht so aus.« Jennifer grinst.
»Wie sehen die denn aus? Cordhose und hellblaues Hemd? Nein, ich bin selbst Künstler.«
»Deshalb die 9/11-Bücher?«
»Ich interessiere mich für Überwachung.«
Die beiden gehen durch die Ausstellung, Jennifer grüßt im Vorbeigehen Leute, die ebenfalls durch den Raum streifen.
An der Bar holen sie sich ein Glas Wein. Die Arena ist eröffnet, Begriffe fliegen durch den Raum: Foucault, Deleuze, Bloomberg, 9/11, Kameras, der Leviathan.
Tom betritt den Ausstellungsraum und fühlt sich gleich nicht wohl. Vor zwei Stunden hat er mit Sunner über ein neues Verhörzentrum gesprochen, nun ist er in einer Kunstausstellung, die die Welt verbessern will. Sozialkitsch, denkt er. Er sucht Jennifer in der Menge – und entdeckt sie im angeregten Gespräch. Typ Künstler, Tom kennt ihn nicht. Vielleicht passt der ja besser zu ihr.
Die Menschen schwirren umher, eine Gruppe Interessierter hat sich um den Auktionator versammelt. Alle haben Weingläser in der Hand. Ein großer Weinimporteur sponsert die Ausstellung. Der Auktionator preist die Zeichnung an, die als Nächste versteigert werden soll. Er stellt den Künstler vor und nimmt die ersten Gebote entgegen. Die Zeichnung zeigt in zarten
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