1WTC
»Show you’re not afraid. Go shopping!« vor der Columbia University, vor den Trump Towers. »Show you’re not afraid. Go shopping!« im Rockefeller Center. In der Wall Street. Im Waldorf Astoria. Im Apple Store. Bei Prada. Auf der Rampe des Guggenheim. In der Haupthalle des JFK-Flughafens. Im Yankees-Stadium. Auf der Baustelle des Word Trade Centers.
Jennifer spielt die Hauptrolle. Sie versteht das Thema, und alle werden sie sehen wollen. Idealbesetzung. Unschuldig, dennoch kraftvoll. Naiv wie Marilyn Monroe in Wie angelt man sich einen Millionär? , aggressiv wie Sharon Stone in Basic Instinct , verzweifelt wie Kim Novak in Vertigo : »Show you’re not afraid. Go shopping!«
Halbtotale. Mikael und Jennifer kommen durch die Telefonzelle aus dem PDT. Mikael hilft Jennifer in ihre Jacke. Seine Hand streicht über ihren Rücken. Sie lächelt.
Totale. First Avenue, Blick auf die Außenfassade des Hotdog-Ladens. Eine Menschentraube am Eingang. Mikael und Jennifer kommen aus der Tür. Er legt seinen Arm um ihre Schulter.
Ein Taxi fährt vor. Mikael und Jennifer steigen ein. Das Taxi fährt ab.
Blende.
Jennifer atmet tief und regelmäßig, doch Mikael schläft unruhig. Er träumt von Syana und von Überwachungskameras. Er wacht auf, holt sich eine Flasche Wasser und denkt noch einmal über seine neue Filmidee nach. Er betrachtet Jennifer, die völlig entspannt auf dem Sofa liegt und schläft. Alles könnte so perfekt sein. Jennifer schreit »Show you’re not afraid. Go shopping!« und rennt durch die Straßen, die zusammengeschnittenen Bilder der verschiedenen Kameras eröffnen eine neue Sicht auf New York. Aber irgendwas stimmt nicht. Der Film hat einen Fehler. Mikael setzt sich auf, drückt die Schultern in die Lehne des Schlafsofas, trommelt mit den Fingern auf die Decke über seinen Knien. Dann fällt es ihm plötzlich ein. »Scheiße. Ich brauche Ton.«
CCTV-Kameras nehmen keinen Ton auf, die Dateien wären zu groß. Nur Bilder. Überwachung braucht keinen Ton.
Mikael starrt auf die Wand in seinem Atelier. Fotos von Überwachungskameras, Zettel mit technischen Angaben, Skizzen zu den Blickwinkeln, Entwürfe für Bewegungsabläufe vor der Kamera.
Manu Luksch, österreichische Künstlerin, die in London lebt, hat 2007 mit Faceless einen ausschließlich mit zur Überwachung öffentlicher und halböffentlicher Räume genutzten CCTV-Kameras gedrehten Science-Fiction-Film produziert. Ausgangsmaterial sind Aufnahmen, auf denen sie selbst zu sehen ist. Diese Aufnahmen hat sie auf Basis des britischen Data Protection Act aus dem Jahr 1998 von den jeweiligen Kamerabetreibern eingefordert, zusammengeschnitten und vertont.
Aufgrund des Data Protection Act mussten die Kamerabetreiber die Gesichter anderer in den betreffenden Aufnahmen zu sehender Personen unkenntlich machen, zum Beispiel mittels einer über das Gesicht gelegten schwarzen Maske. Diese Maskierung ist Namensgeber und vorherrschendes Bildmotiv von Faceless .
Bereits 2002 hat Luksch ein Manifest über die Verwendung von found footage aus Überwachungskameras verfasst. Darin finden sich explizite Anweisungen für gezielte Dreharbeiten, Tipps für das Einfordern der aufgenommenen Videosequenzen und für die Distribution der so entstandenen Filme. Vor allem, so Luksch, ist bei allen Schritten auf die gesetzlichen Einschränkungen zu achten, da sonst die Filmemacher keinen Anspruch auf die Überwachungsvideos haben oder die daraus erstellten Filme nicht öffentlich vorführen dürfen.
Das »Manifesto for CCTV Filmmakers« kann man im Internet unter www.ambienttv.net abrufen.
Mikael betrachtet die schlafende Jennifer. Das weiße, viel zu große T-Shirt hat er ihr gestern Abend gegeben. Ihre Klamotten liegen auf einem Stuhl.
Mikael zieht kurz die Augenbrauen hoch und wirft sich wieder in das zerknautschte Kopfkissen. Hoffentlich hat Syana eine Lösung für die Sache mit dem Ton. Er muss sie unbedingt sofort fragen, wenn sie wieder aus Detroit zurück ist.
Etwas ist anders als in den letzten Tagen. Ganz anders. Er streicht Jennifer noch mal durchs Haar, dann zieht er die Decke hoch und versucht, noch einmal einzuschlafen.
Er liegt noch lange wach.
3.
»Das größtmögliche Kunstwerk, das es je gegeben hat.«
Karlheinz Stockhausen, 16. September 2001
Tom hat sich in den ersten Wochen bei SOM gut eingearbeitet. Er fühlt sich wohl in der Firma. Nach der Trennung von Jennifer gibt ihm die Routine des Arbeitsalltags Halt und Sicherheit. Er teilt sich das
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