1WTC

Ist sie zu diesem Einsatz bereit?
    Diese Fragen kann Syana erst beantworten, wenn sie »Das Spiel« wenigstens einmal bis zum Ende durchgespielt hat. Syana beschließt, noch ein paar Tage am See zu bleiben, um eine Entscheidung zu treffen.
    Endlich wieder 1 WTC. Seinem Chef erzählt Tom, er habe seine Sicherheitsprüfung dem Heimatschutzministerium übergeben und könne nun erst einmal mit dem Serverraum weitermachen. Nachdem er mehr als einen Monat vor allem an dem Verhörzentrum gearbeitet hat, ist das eine richtige Wohltat. Endlich wieder mit den Kollegen sprechen, statt die ganze Zeit alleine im Entwurfsverließ zu hocken.
    Seit er die Pläne für Polen fertiggestellt und an Sunner geschickt hat, ist Tom wie ausgewechselt. Er geht abends aus, trifft sich wieder mit Freunden, feiert. In seiner neugewonnenen Freizeit setzt er die Recherchen fort, die er über den Vorgänger des Gebäudes, an dessen Planung er nun beteiligt ist, begonnen hat. Für seinen Entwurf spielen das ursprüngliche World Trade Center und sein Architekt Minoru Yamasaki keine Rolle, aber es interessiert ihn trotzdem, aus reiner Neugier.
    Das World Trade Center ist nicht das einzige Gebäude von Yamasaki, das gewaltsam zerstört wurde. Er plante ab 1951 mit Pruitt-Igoe eine Großsiedlung mit 33 elfstöckigen Plattenbauten. Das soziale Wohnungsbauprojekt galt als gescheitert und wurde 1972 gesprengt. Dazu schreibt der amerikanische Architekt und Architekturtheoretiker Charles Jencks (geboren 1939) in seinem wegweisenden Buch Die Sprache der postmodernen Architektur von 1977: »Glücklicherweise lässt sich der Tod der modernen Architektur auf einen genauen Zeitpunkt datieren. […] Die Moderne starb in St. Louis/Missouri am 15. Juli 1972 um 15.33 Uhr, als die berüchtigte Siedlung Pruitt-Igoe oder vielmehr einige ihrer Hochhäuser den endgültigen Gnadenstoß durch Dynamit erhielten.«
    Es ist schon eine komische Geschichte mit Minoru Yamasaki, denkt Tom. Ein Architekt, der berühmt wurde, weil seine beiden wichtigsten Planungen gewaltsam und geplant zerstört wurden. Hat er mit seinen Bauwerken den Geist der Zerstörung gesät? Die Zerstörung der Großsiedlung Pruitt-Igoe steht für das Scheitern der Nachkriegsmoderne. Für welches Scheitern steht das Ende des World Trade Centers? Er zieht einen Text Baudrillards über die Twin Towers aus seiner Schreibtischablage:
    »Als Abbild des Systems traten an die Stelle von Obelisk und Pyramide die Lochkarte und die statistische Grafik. Dieser architektonische Grafismus verdeutlicht nun kein konkurrentielles System mehr, sondern ein numerisches und errechenbares, in welchem die Konkurrenz vor den Netzen und dem Monopol kapituliert hat.«
    Die Bilder und Sätze beginnen, sich zu drehen, die Fragmente der verschiedenen Quellen, die Tom für die Arbeit am Paradies und für die Recherchen über das alte World Trade Center zusammengesucht hat, vermischen sich und entfalten ein Eigenleben.
    Das Telefon klingelt. Es ist der Apparat, auf dem nur Sunner anruft. Tom will nicht abnehmen. Natürlich interessiert es ihn, wie der Versuchslauf in Polen ausgegangen ist. Aber womöglich hat Sunner einen neuen Auftrag? Ein neues Verhörparadies an einem anderen Ort? Darauf hat Tom wirklich keine Lust. Mehr noch: Er hat Angst davor. Es klingelt zum sechsten Mal, Tom zögert immer noch. Schließlich hebt er ab.
    »Guten Morgen, Sir.«
    »Wie geht’s, Tom? Gut? Schön. Wir sollten uns mal wieder treffen. Ich komme übermorgen in dein Büro, um neun Uhr. Okay?«
    »Wenn es sein muss«, antwortet Tom, aber Sunner hat schon aufgelegt, ohne Toms Antwort abzuwarten. Tom legt den Hörer neben das Telefon und hört dem Freizeichen nach.
    Halbtotale. Die Bar, der Tisch, die drei Männer.
    Der nachfolgende Dialog in Schuss-Gegenschuss.
    Connelly: »Was gibt es Neues, meine Herren? Sunner, wie war es im polnischen Paradies?«
    Sunner: »Strukturell erfolgreich. Das Experiment hat gezeigt, dass die neue Verhörmethode funktionieren kann.«
    Connelly: »Was soll das heißen: ›Kann funktionieren‹? Funktioniert sie nun oder funktioniert sie nicht?«
    Sunner (macht eine Kunstpause): »Das wollte ich ja gerade ausführen. Die Verhörmethode kann funktionieren, wenn das künstliche Paradies besser ausgeführt wird. Bis der Gefangene realisiert hat, in welcher Situation er sich tatsächlich befand, haben wir erste Ergebnisse produziert. Wir haben sogar verwertbare Informationen über geplante Anschläge in Europa erhalten. Die