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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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...«
    »Alissa, meine Liebe, wie soll ich ihr denn helfen?«, fragte die Lemeschewa sanft. »Sie ist tot. Schon an die fünf Minuten. Sie hat nicht aufgepasst und alles gegeben.«
    Rasch zog ich meine Hand weg. Der willenlose Körper Olgas hüpfte auf dem Sitz auf und ab, der Unterkiefer sackte ihr auf die Brust.
    »Was ist, spürst du nichts mehr?«, flüsterte Jeanne. »Was ist mir dir, Aliska?«
    Lebende von Toten zu unterscheiden - dafür ist nicht mal ein Zauber nötig. Das verlangt nur eine ganz elementare Anwendung der Kraft. Jene zarte Materie, die manche Seele nennen, spürt man sofort. Wenn sie vorhanden ist.
    »Du hast zu viel Kraft abgegeben!«, schlussfolgerte Lenka. »Ach, Alissa, du bist jetzt völlig leer! Für fünf Jahre bist du leer. Wie Julja Brjanzewa, die sich vor zwei Jahren bei einem Einsatz verausgabt hat und bis heute nicht wieder ins Zwielicht eintreten kann!«
    »Das könnte euch so passen«, entgegnete ich nur, wobei ich versuchte, eine ruhige Miene aufzusetzen. »Laut Vorschrift muss mir bei der Kräfteerneuerung geholfen werden.«
    Das klang erbärmlich.
    »Ist der Brjanzewa denn geholfen worden?«, fragte Lena.
    Anna Tichonowna seufzte. »Als du Sebulon vor einem Jahr jeden Wunsch erfüllt hast, Alissa, da wäre alles vorschriftsgemäß gewesen.«
    Ich hatte mir noch nicht einmal eine Antwort überlegt, als die Romaschowa plötzlich hysterisch aufschrie. »Wohin bringen Sie mich? Wohin bringen Sie mich?«
    Das reichte. Ich sprang auf und hämmerte auf die Hexe ein - wobei ich es darauf anlegte, ihr die Visage möglichst heftig aufzukratzen. Die Frau war so verängstigt, dass sie nicht einmal den Versuch machte, sich zu wehren. Drei Minuten vermöbelte ich sie unter dem Beifall der Vampirbrüder, den Vorwürfen der Lemeschewa und den Anfeuerungsrufen von Lena und Jeanne. Nur die tote Olga, gegen die ich in dem engen Minibus die ganze Zeit stieß, konnte nichts sagen. Doch ich glaube, auch sie hätte mich unterstützt.
    Dann setzte ich mich wieder und rang nach Luft. Die alte Hexe betastete schluchzend ihr blutiges Gesicht.
    Wenn die uns doch nur verfolgt hätten! Ich wär diesen Lichten an den Hals gegangen - nicht schlechter als ein Vampir! Ohne jede Magie hätte ich die getötet!
    Doch sie verfolgten uns nicht einmal. Unsere Rückkehr hätte niemand als triumphal bezeichnen können.
    Die Vampire holten Olgas Körper aus dem Bus und trugen sie so schweigend in unser Hauptquartier, als verstünden sogar sie die Tragik der Situation. Aber warum hätten sie das Ganze eigentlich nicht begreifen sollen? Sie hatten das Leben gegen das Nicht-Leben eingetauscht, damit jedoch nicht aufgehört zu denken und zu fühlen. Theoretisch konnten sie diese Existenz ewig beibehalten, Während Olga für immer von uns gegangen war.
    Deniska fuhr den Minibus auf den Parkplatz. Edgar, der die gerettete Hexe fest beim Arm gepackt hielt, führte sie ins Gebäude der Tagwache. Die Frau leistete keinerlei Widerstand. Wir schlossen uns der Prozession an.
    Eine Leiche mitten in Moskau über eine belebte Straße direkt neben der Kremlmauer zu tragen ist kein einfaches Unterfangen. Und zwar ungeachtet des Zaubers der Bedeutungslosigkeit, den die Lemeschewa erneuert hatte. Gewiss, niemand sah uns, alle beschleunigten den Schritt und versuchten, um unseren Zug einen möglichst großen Bogen zu machen. Dafür geriet das Zwielicht in Aufruhr.
    Der Stoff des Lebens ist hier zu dünn. Zu viel Blut, zu viel Emotionen, zu deutliche Spuren der Vergangenheit. Es gibt Orte, an denen die Grenze zwischen der Menschenwelt und dem Zwielicht kaum noch auszumachen ist. Moskaus Zentrum ist einer von ihnen.
    Wenn ich in Form gewesen wäre, hätte ich die Funken der Kraft gesehen, die aus den Tiefen einer andern Realität kamen. Noch nicht einmal Sebulon dürfte genau erklären können, was hinter ihnen stand. Uns blieb nichts andres übrig, als sie zu ignorieren, einfach nicht auf den gierigen Atem des Zwielichts zu achten, das die Hexe erschnüffelte, die in dem magischen Duell gestorben war.
    »Schneller!«, befahl die Lemeschewa, und die Vampire legten einen Zahn zu. Das Zwielicht toste bestimmt nicht zum Spaß los.
    Ich bekam davon natürlich nichts mit...
    Wir betraten das Haus durch die für Menschen unsichtbare Tür, wobei Jeanne und ich Lena stützen mussten. Unsere Kollegen kamen uns bereits entgegengerannt. Die Hexe, die abermals ihr Gejammer anstimmte, brachten sie in den neunten Stock, in einen Raum zum Verhör. Olga

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