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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Grund...
    Und jetzt? Hatte ich es bewiesen!
    Und war zum Krüppel geworden. In weitaus schlimmerem Maße als nach dem Kampf mit Tigerjunges...
    »Aber beeil dich, Shanka«, sagte die Lemeschewa. »Kommst du mit uns mit, Alissa?«
    Ich drehte mich Anna Tichonowna zu - brachte aber kein Wort hervor.
    »Hier geht niemand irgendwohin«, erklang hinter mir eine Stimme. Die Lemeschewa riss die Augen auf, während ich, da ich die Stimme erkannte, zusammenschreckte.
    Am Fahrstuhl stand Sebulon.
    In seiner menschlichen Gestalt: ein hagerer, trauriger Mann mit leicht abwesendem Blick. Viele von uns kennen ihn nur so, ruhig, gesetzt, ja, sogar etwas langweilig.
    Aber ich kannte auch noch einen andern Sebulon. Nicht den beherrschten Chef der Tagwache, nicht den starken Kämpfer, der ein dämonisches Aussehen annimmt, nicht den Dunklen Magier außerhalb jeder Klassifikation, sondern den lustigen und unermesslich phantasievollen Anderen. Einfach einen Anderen - ohne all das, was uns meilenweit voneinander trennte, als ob es keinen Unterschied gebe in Alter, Erfahrung und Kraft.
    So war es einmal. Damals...
    »Alle in mein Büro«, befahl Sebulon. »Sofort.«
    Er verschwand. Vermutlich, indem er ins Zwielicht eintauchte. Doch zuvor ließ er seinen Blick noch kurz auf mir ruhen. In seinen Augen stand nichts geschrieben. Kein Spott, kein Mitleid, keine Sympathie.
    Trotzdem sah er mich an, und mein Herz hämmerte. Im Laufe des letzten Jahrs schien Sebulon die in Ungnade gefallene Hexe Alissa Donnikowa noch nicht einmal bemerkt zu haben.
    »Da hätten wir also was gegessen und uns gewaschen«, sagte die Lemeschewa verdrossen. »Kommt, Mädchen.« Dass ich abseits saß, war ein Zufall.
    Meine Beine hatten mich ganz automatisch zu dem Sessel am Kamin getragen, einem breiten Ledersessel, in dem ich mich früher immer zusammengerollt hatte, um - halb liegend, halb sitzend - Sebulon bei der Arbeit zuzuschauen, das rauchlose Feuer im Kamin zu beobachten, die Fotos zu betrachten, die an den Wänden hingen...
    Als mir aufging, dass ich mich unfreiwillig von den andern abgesondert hatte, die, wie es sich gehörte, auf den Sofas an den Wänden Platz genommen hatten, ließ sich bereits nichts mehr daran ändern. Das hätte dumm ausgesehen.
    Dann streifte ich mir die Sandaletten ab, zog die Füße unter mich und machte es mir bequem.
    Die Lemeschewa musterte mich verwundert, bevor sie Bericht erstattete, die andern sahen mich nicht einmal an - sie verschlangen den Chef mit den Blicken. Diese Schleimscheißer! tisch zurücklehnte, reagierte ebenfalls nicht auf mich. Zumindest äußerlich nicht.
    Dann eben nicht...
    Ich hörte die sonore Stimme der Lemeschewa - sie trug gut vor kurz und bündig, sagte nichts Überflüssiges und ließ nichts Wichtiges aus. Und ich sah mir die Fotografie an, die über dem Schreibtisch hing. Ein uraltes Bild, aufgenommen vor einhundertvierzig Jahren, noch mit dem Kollodium-Verfahren. Irgendwann hatte mir der Chef einmal den Unterschied zwischen der »trockenen« und der »nassen« Entwicklung erklärt. Auf dem Foto war Sebulon im altmodischen Gewand eines Studenten aus Oxford zu sehen, im Hintergrund erhoben sich die Türme des Christ Church College. Es war das Original einer Arbeit von Lewis Carroll, und der Chef hat einmal erwähnt, es sei ziemlich schwer gewesen, diesen »staubtrockenen poetischen Wicht« zu überreden, seine Zeit nicht für ein kleines Mädchen zu opfern, sondern für seinen Studenten. Doch das Foto schien mir sehr gelungen. Carroll war in der Tat ein Könner. Sebulon wirkte auf dem Bild seriös, doch in seinen Augen tanzte leise Ironie, außerdem sah er viel jünger aus ... Obwohl für ihn anderthalb Jahrhunderte...
    »Donnikowa?«
    Ich sah die Lemeschewa an. »Dem kann ich mich nur anschließen«, sagte ich nickend. »Wenn das Ziel unserer Mission die unverzügliche Befreiung einer Verhafteten gewesen ist, dann stellten die Bildung des Kraftkreises und die Drohung, ein Opfer zu bringen, eine adäquate Maßnahme dar.« Ich schwieg kurz. »Natürlich nur, wenn dieses dumme Weib diese Anstrengungen wert ist«, fügte ich dann skeptisch hinzu.
    »Alissa!« Die Stimme der Lemeschewa klang schneidend wie Stahl. »Wie kannst du es wagen, die Befehle der Leitung in Frage zu stellen? Ich entschuldige mich für das Verhalten von Alissa, Chef, sie hat sich aufgeregt und ist nicht ganz ... nicht ganz beieinander.«
    »Gewiss«, sagte Sebulon. »Alissa hat praktisch den Erfolg der Operation garantiert. Sie

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