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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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übernahmen die Magier aus der Heilungsabteilung. Ohne jede Hoffnung, ihr helfen zu können - doch ihr Tod musste noch festgestellt werden. Einer der diensthabenden Heiler untersuchte uns sorgfältig. Missbilligend schüttelte er den Kopf, als er den Zustand Jeannes sah, und runzelte die Stirn, während er die zerzausten Vampire betrachtete. Dann lenkte er den Blick auf mich - und seine Züge gefroren.
    »Was denn? Ist es so schlimm?«, fragte ich.
    »Das ist noch untertrieben«, erwiderte er ohne überflüssige Sentimentalität. »Was hast du dir dabei gedacht, als du deine ganze Kraft abgegeben hast, Alissa?«
    »Ich habe den Vorschriften gemäß gehandelt«, antwortete ich, während ich merkte, wie erneut Tränen in mir aufstiegen. »Mit Edgar wäre es sonst aus gewesen, ihm standen zwei Magier zweiten Grades gegenüber!«
    »Dein Eifer ehrt dich, Alissa«, meinte der Heiler nickend. »Aber der Preis ist auch nicht gering.«
    Edgar, der bereits auf den Fahrstuhl zuging, blieb stehen und sah mich voller Mitleid an. Dann kam er auf mich zu und küsste mir zart und galant die Hand. Diese Balten führen sich stets als viktorianische Gentlemen auf.
    »Alissa, meinen aufrichtigsten Dank! Ich habe gespürt, dass ihr das Letzte gegeben habt. Und ich hatte schon Sorge, du würdest Olga nachfolgen.« Dann wandte er sich an den Heiler. »Karl Lwowitsch, was kann man für dieses kühne Mädchen tun?«
    »Ich fürchte, nichts.« Der Heiler breitete die Arme aus. »Alissa hat die Kräfte aus ihrer Seele gezogen. Das ist wie bei Dystrophie, wissen Sie. Wenn der Organismus nicht genügend Nahrung bekommt, beginnt er, sich selbst zu verdauen. Er zerstört Leber, Muskeln und Magen, nur um bis zum Schluss das Gehirn zu erhalten. Unsere Mädchen sind in eine vergleichbare Situation geraten. Jeanne hat offenbar rechtzeitig das Bewusstsein verloren und daher aufgehört, die letzten Reserven anzugreifen. Alissa und Olga haben bis zum Ende durchgehalten. Olga hatte weniger innere Reserven und starb. Alissa hat es überstanden, ist mental aber völlig ausgelaugt...«
    Edgar nickte verstehend, alle andern hörten interessiert zu, sodass der Heiler mit seinen Ausführungen fortfuhr. »Die Fähigkeiten eines Anderen lassen sich in gewisser Weise mit jeder x-beliebigen energetischen Reaktion vergleichen, zum Beispiel mit einer atomaren. Wir halten unsere Fähigkeiten aufrecht, indem wir Kraft aus unserer Umwelt ziehen, aus den Menschen und andern minder organisierten Objekten. Doch um diese Kraft aufzunehmen, muss man zunächst etwas Kraft einbringen - das ist das eherne Gesetz der Natur. Über diese Anfangskraft verfügt Alissa jetzt kaum noch. Ein starker Impuls hilft hier überhaupt nicht, so wie ein Stück stark gesalzenen Schweinespecks oder knusprig gebratenen Fleischs einen Verhungernden nicht rettet. Der Organismus kann diese Nahrung nicht mehr verdauen - sie bringt ihn um, statt ihn zu retten. So ist es auch mit Alissa. Man kann ihr Energie einflößen, aber sie wird sich daran verschlucken.«
    »Geht das alles vielleicht auch, ohne von mir in der dritten Person zu sprechen?«, fragte ich. »Und nicht in diesem Ton?!«
    »Tut mir leid, mein Mädchen.« Karl Lwowitsch seufzte. »Aber ich sage die Wahrheit.«
    Edgar ließ behutsam meine Hand los.
    »Reg dich nicht auf, Alissa«, sagte er. »Vielleicht fällt der Leitung irgendwas ein. Und apropos gebratenes Fleisch - ich habe einen Bärenhunger.«
    »Gehen wir in irgendein Bistro«, meinte die Lemeschewa und nickte.
    »Ihr wartet doch auf mich, oder?«, bat Jeanne. »Ich geh schnell unter die Dusche, ich bin völlig verschwitzt...«
    Meine Kräfte reichten nicht einmal mehr, um in Panik auszubrechen. Ich stand da, hörte mir teilnahmslos ihr Gespräch an und versuchte, wenigstens etwas zu fühlen, was die Fähigkeiten eines Anderen erforderte. Den eigenen, den richtigen Schatten zu sehen, das Zwielicht herbeizurufen, den emotionalen Hintergrund zu erspüren...
    Nichts.
    Außerdem schienen mich alle irgendwie vergessen zu haben...
    Wären Jeanne oder Lenka an meiner Stelle gewesen, hätte ich mich genauso verhalten. Wegen der Dusseligkeit andrer griff man doch wohl nicht zum Strick, oder? Wer hatte mich denn gebeten, alles zu geben, bis zur bitteren Neige?! Eben! Aber ich musste ja die Heldin spielen!
    Und das alles wegen Semjon und Tigerjunges. Als mir klar wurde, mit wem wir es zu tun bekommen würden, wollte ich meine Revanche. Etwas beweisen ... irgendwem ... aus irgendeinem

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