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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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alles wie lustiges Geplauder klang, aber ... Womöglich käme uns plötzlich doch mal ein Mensch auf die Schliche. Dann müsste man Kraft und Zeit auf ihn verschwenden.
    »Ich liebe dich«, flüsterte ich. »Vielen Dank.«
    »Viel Glück, meine Kleine«, sagte Sebulon zärtlich. »Ich küsse dich.«
    Ich beendete das Gespräch. Lächelte mir selbst zu.
    Gut, alles war in Ordnung. Aber woher kam dann diese idiotische Nervosität? Und woher dieser dumme Gedanke, ich hätte mich in Igor verliebt? Liebe ist etwas andres, Liebe ist eine tiefe Befriedigung, eine Fontäne von Emotionen, eine sinnliche de und angenehm miteinander verbrachte Zeit. Aber das, was ich empfand, meine seltsame Schüchternheit und Nervosität -all das war nur eine Folge meiner Krankheit. Ich war es nicht gewöhnt, auf diese Weise mit einem Mann zusammen zu sein, ohne jede Ahnung, wie ich ihn kontrollieren könnte ... ohne ihn mit einer Pistole zu bedrohen wie diese dämlichen Gangster...
    »Alissa?« In der Tür erschien das neugierige Näschen von Oletschka. »Kommen Sie denn nicht noch kurz zu uns?«
    Das Mädchen war barfuß und nur in Unterwäsche. Hatte schon im Bett gelegen, es dann aber nicht mehr ausgehalten.
    »Gleich«, sagte ich. »Soll ich euch noch eine Geschichte erzählen?«
    Oletschka strahlte. »Ja!«
    »Eine lustige oder eine gruselige?«
    Das Mädchen runzelte die Stirn. Natürlich siegte die Neugier. »Eine gruselige!«
    Alle Kinder lieben gruselige Geschichten.
    »Geh schon mal ins Bett«, sagte ich. »Ich komm gleich nach.« Zehn Minuten später saß ich im Schlafsaal, an Oletschkas Bett, und erzählte mit halblauter Stimme: »Eines Morgens wachte ein Mädchen auf und ging zum Spiegel und sah hinein. Da hatte sie ganz rote Zähne! Sie putzte sie mit Zahnpasta und wusch sie mit Seife, doch sie blieben trotzdem rot. Kein Wort konnte sie mit ihren Eltern reden, sonst hätten sie etwas gemerkt. Nur gut, dass der kleine Bruder des Mädchens krank war und die Eltern deshalb sowieso nicht auf sie achteten. Wie immer kriegten die Kleinsten alle Aufmerksamkeit ab, während für die Größeren nichts übrig blieb, selbst wenn ihre Zähne rot waren...«
    Eine bemerkenswerte Sache, die Horrorgeschichtchen für Kinder! Vor allem wenn man sie nachts im durchs Fenster einfallenden, geheimnisvollen Halbdunkel einer Horde kleiner dummer Mädchen erzählt.
    »Ich weiß schon, wie es weitergeht...«, sagte Natascha mit gelangweilter Stimme. Ein sehr ernstes Mädchen, das man mit gruseligen Geschichten nicht aus der Fassung brachte. Die andern zischten sie empört an, worauf sie verstummte. Ich fuhr fort, wobei ich spürte, wie das kleine Herz der sich an mich schmiegenden Oletschka hämmerte. Das würde eine Ernte geben...
    »In der dritten Nacht band sich das Mädchen selbst mit einem Strick ans Bett, am rechten Zöpfchen«, erzählte ich mit geheimnisvoller Stimme weiter. »Um Mitternacht wachte es auf, weil die Leine sich spannte, sodass es an ihren Haaren zog. Das Mädchen wunderte sich, dass sie an dem Bettchen ihres kleinen Bruders stand und ihre Zähne klapperten! Sie klapperten!«
    Larissa wimmerte leise. Nicht erschrocken, sondern eher weil es dazugehörte. Ein andres Mädchen fing natürlich an, fröhlich mit den Zähnen zu klappern.
    »Dann ging das Mädchen in die Küche, nahm einen Hammer und eine Zange aus der Anrichte, die ihr Papa dort aufbewahrte, und riss sich bis zum Morgen heimlich alle Zähne heraus. Das tat sehr weh, aber sie schaffte es, denn sie war ein tapferes kleines Mädchen und hatte kräftige Hände. Am nächsten Tag war ihr Bruder wieder gesund. Dem Mädchen waren neue Zähne nachgewachsen, die sogar besser waren als die alten, denn das waren ihre Milchzähne gewesen!« Ich senkte die Stimme zu einem Flüstern herab. »Nur dass auch die neuen rosa waren!«, sagte ich mit feierlichem Ton.
    Eines der Mädchen, die sich bereits auf das glückliche Ende eingestellt hatten, schrie erschrocken auf.
    »Und ihren kleinen Bruder hatten die Eltern auch viel lieber als das Mädchen«, schloss ich feierlich. »Denn er war damals sehr krank gewesen, und sie hatten sich große Sorgen um ihn gemacht.«
    Das reichte. Wie viele der Mädchen wohl einen kleinen Bruder hatten? Das Land wies eine niedrige Geburtenrate auf, doch andererseits setzten die meisten Eltern noch ein zweites
    Meine Mutter hatte das auch gewollt. Auf ihre alten Tage, sie war schließlich bereits über dreißig, die Idiotin ... Ich war damals zwar erst zwölf -

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