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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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mit einem einzigen Streichholz zu entzünden oder nicht.
    Er schaffte es. In der tiefen Dunkelheit loderten die ersten Flammen auf. Sie wurden mit freundlichem Gekreisch und Gejohle begrüßt, als habe sich um das Lagerfeuer ein Stamm von Menschen aus der Urzeit versammelt, die nach einem Unwetter froren.
    »Klasse gemacht!« Igor streckte dem Jungen die Hand entgegen, drückte die seine fest und zerstrubbelte ihm lächelnd die Haare. »Du wirst unser Lagerfeuermeister!«
    Aljoschkas Gesicht spiegelte unbändigen Stolz wider.
    Nach etwa fünf Minuten brannten alle Holzscheite, und die Kinder beruhigten sich ein wenig. Um mich herum schwatzten alle, lachten, flüsterten, rannten vom Feuer weg und kamen wieder herbei, warfen Zweige und Zapfen in die Flammen und versuchten, auf Stöcke gespießte Wurststücke zu rösten. Kurzum, alle amüsierten sich prächtig. Igor thronte inmitten der Kinder, warf ab und an etwas in die Unterhaltung ein, worauf alle loslachten, probierte immer wieder die halb verkohlten Würstchen oder zog die Kinder weg, die sich zu nah ans Feuer vorwagten. Die Seele des Abends... Auch an Galina klebten ihre Schützlinge. Nur ich saß wie eine komplette Idiotin in der fröhlichen Masse, hatte nie die richtigen Antworten für die Mädchen parat, lachte immer zuletzt los und guckte sofort woanders hin, wenn Igor mich ansah.
    Ich Idiotin! Was war ich bloß für eine Idiotin! Das fehlte noch, dass ich mich ernsthaft in einen Menschen verliebte!
    Als ich Igor mal wieder anstarrte, lächelte er mir zu. Dann streckte er die Hand aus und hob seine Gitarre aus dem Gras auf. Wellenartig breitete sich Stille um ihn herum aus - die Kinder stupsten sich gegenseitig an, verstummten und stellten sich mit überbetonter Aufmerksamkeit darauf ein, ihm zuzuhören.
    Mit einem Mal hoffte ich inständig, er würde etwas Dummes und Blödes vortragen. Vielleicht ein altes Pionierlied über im Feuer gebackene Kartoffeln, das Meer, das Pionierlager, enge Freundschaft und wie sie für Urlaub und Schule immer bereit seien. Wenn nur dieser bescheuerte Zauber aufhörte, wenn ich nur aufhörte, mir sonst was auszumalen und unter der schönen Körperhülle nicht vorhandene Vorzüge zu vermuten.
    Igor fing an zu spielen, und ich begriff, dass ich verloren war. Er konnte spielen. Die Melodie war zwar nicht sehr kompliziert, aber schön, und er vergriff sich nie.
    Dann fing er an zu singen:
Zwei Jungen blickten zum Himmel und sahen
    Einen Engel sich ihrem Dachboden nahen. Da
    liefen sie heimlich zur Feuerleiter, Stiegen nach
    oben, hinauf, immer weiter, Zum Fenster hinein in
    die Dunkelheit, Staubig war's, kein Mensch weit
    und breit. Doch da in der Ecke das Weiße - fürwahr, 
    Ein abgelegtes Flügelpaar... Eben, Jungs, eben!
    Engel ist man nicht immer im Leben. Doch stehlen
    darf man in keinem Falle, Es gibt nämlich nicht
    genug Flügel für alle. Hoch in den Himmel wollten
    sie fliegen, Jetzt konnten sie dazu die Flügel
    kriegen, Sie wagten es nicht, denn man hat sie
    gelehrt, Dass zum Leben ein Wort wie »verboten«
    gehört.
    Das war kein Lied für Kinder. Gewiss, sie hörten zu, so aufmerksam sie konnten, obwohl man ihnen jetzt vermutlich bei Gitarrenklängen ein Mathebuch hätte vorsingen können, ohne dass sie gemurrt hätten. Der Abend, das Lagerfeuer, die Gitarre, der geliebte Gruppenleiter - in so einer Situation würde ihnen alles gefallen.
    Ich jedoch begriff, dass Igor für mich sang. Selbst wenn er unablässig ins Feuer schaute, selbst wenn es kein Liebeslied war, selbst wenn wir bisher nur ein paar Worte miteinander gewechselt hatten. Er schien gespürt zu haben, worauf ich eben noch gehofft hatte - nur um diesen Wunsch dann zu ignorieren. Möglicherweise war dem ja tatsächlich so, denn viele Menschen verfügen über eine gute Intuition, auch wenn sie nicht zu den Anderen gehören.
Die beiden Jungen wuchsen heran, 
    Und ihre Wege trennten sich dann.
    Der eine wird Bulle, der andere Gangster, 
    Und jeder denkt wehmütig oft an das Fenster...
    Eben, Jungs, eben!
    Engel ist man nicht immer im Leben.
    Doch stehlen darf man in keinem Falle, 
    Es gibt nämlich nicht genug Flügel für alle. 
    Er sah mich an und lächelte. Seine Finger glitten noch einmal über die Saiten, und er wiederholte leise: »Es gibt nämlich nicht genug Flügel für alle ...«
    Die Kinder fingen an, Radau zu machen.
    Das Lied schien ihnen sogar gefallen zu haben, obwohl es über meinen Horizont ging, was sie davon überhaupt verstanden

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