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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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ins Koma fallen. Das passiert, wenn auch nur sehr selten, bei Menschen, denen ihre Kraft zu schnell abgezapft wird.
    Doch dann atmete sie weiter.
    Ich erhob mich. Schweiß brach mir aus allen Poren. Ich bemerkte, wie in das Loch, das an der Stelle meiner sonstigen Kraft klaffte, ein Krümchen Energie fiel. Nein, das stopfte es noch längst nicht ... und ich hatte überstürzt gehandelt ... warum auch immer...
    Aber ich würde wieder gesund werden.
    Weiter. Eine leichte Berührung, die feuchten Haare, der im Schlaf geöffnete Mund, die schlaffen Finger...
    Nichts... nichts... Treffer.
    Natascha.
    Ihr Traum ging auf mich zurück.
    Natascha stand im Badezimmer. Nackt, voller Seifenschaum. Und knallte den Kopf eines fünfjährigen Jungen an die gekachelte Wand. »Spionierst du noch einmal?«, wiederholte sie immer wieder. »Wirst du je wieder spionieren?« Der Junge hing in ihren Armen wie eine Lumpenpuppe. Voller Panik hatte er seine Augen weit aufgerissen, sagte aber kein Wort. Anscheinend fürchtete er eine Strafe von seinen Eltern noch viel mehr als die von seiner Schwester.
    Mit Natascha lief jedoch nicht alles so reibungslos. In ihrer Seele mischten sich die Wut auf den unausstehlichen kleinen Bruder und die Angst, ihn zu fest zu schlagen, die Scham - ob wohl sie doch noch bis vor kurzem zusammen mit ihrem Bru der gebadet hatte - und die Schuld: Schließlich hatte sie die Tür absichtlich offen gelassen, mit Bedacht, damit der kleine Bruder versuchen würde, sie zu beobachten, angetrieben von dem natürlichen kindlichen Verlangen, jedes Verbot zu über treten.
    Nicht schlecht! Noch nicht einmal zwölf Jahre und schon solche Leidenschaften!
    Natascha seufzte tief - und schlug den Kleinen im Traum so heftig gegen die Wand, bis sein Blut floss. Obwohl nicht klar war, woher es kam, spritzte es sofort über den ganzen Kopf.
    Ich saugte ihren Traum auf.
    Völlig. Wut, Angst, Scham, Schuld und eine vage, kaum erwachte Sinnlichkeit.
    Doch der Traum ging noch weiter!
    Natascha, die schon von ihrem Bruder ablassen wollte, packte ihn erneut bei den Schultern. Und mit der kalten Berechnung eines Henkers drückte sie seinen Kopf in die Wanne, deren Wasser sich im Nu rosa färbte. Selbst die Schaumblasen, die über dem Wasser aufragten, färbten sich ein. Der Junge zuckte hilflos und versuchte, seinen Kopf aus dem Wasser zu bekommen.
    Ich erstarrte. Ein im Traum vollbrachter Mord gibt fast den gleichen Kraftimpuls wie ein echter. Gleich würde ich das Loch in meiner Seele gestopft haben!
    Ich müsste nur die erneut in Natascha aufsteigende Angst löschen und...
    Doch ich tat nichts dergleichen. Sondern stand bloß da, beugte mich weit über das Bett und betrachtete den fremden Traum - als ob im Fernsehen plötzlich anstelle der Zeichentrickfilme für Kinder ein Horrorstreifen liefe.
    Mit einem Ruck zog Natascha ihren Bruder aus der Wanne. Der sog gierig die Luft ein. Blut war jetzt keins mehr an ihm, nur eine kleine Schramme unterm Auge. Träume haben ihre eigenen Gesetze.
    »Du wirst sagen, dass du selbst mit dem Kopf gegen die Wanne geknallt bist und dich verletzt hast, klar?«, zischte Natascha. Verängstigt nickte der Junge. Natascha stieß ihn jäh aus dem Badezimmer, schloss die Tür - und stieg langsam in das schaumgekrönte Wasser. Das rosafarbene Wasser...
    Ich wartete noch ein paar Sekunden, dann trank ich die Reste des Traums. Welch Triumph, welch Erregung, welch Ruhe ...
    Sofort schloss sich die Wunde in meiner Seele zur Hälfte.
    Ich hätte es Natascha erlauben sollen, ihren Bruder umzubringen. Dafür hätte ich ihr bloß die Angst nehmen müssen, und schon hätte sie ihren Bruder wie ein Kätzchen ertränkt.
    Ich war schweißgebadet. Meine Hände zitterten. Wer hätte denn auch bei diesem kleinen bedachten Schlaukopf mit derartigen Albträumen in der Nacht gerechnet?
    Genug. Gut Ding will Weile haben...
    Ich ging weiter. Bis halb eins bediente ich mich an drei weiteren Träumen. An schlichteren, die mir aber dennoch ordentlich Kraft lieferten. Wirklich nicht schlecht, so ein Aufenthalt hier, wenn die Mädchen Energie in derartigen Mengen ansammeln. Die verlorenen Kräfte hatte ich damit fast vollständig zurückgewonnen. Den Löwenanteil hatte natürlich Natascha geliefert. Meiner Ansicht nach brauchte ich nur noch einen weiteren Traum und wäre wieder vollständig hergestellt, wäre wieder eine ganze normale Andere. Doch niemand träumte noch etwas, das mir genutzt hätte. Ein Traum hätte mich sogar beinah

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