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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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aber bereits eine Andere. Und kam mit unerwartet auftretenden Problemen zurecht. In diesem Falle hatte ich vermutlich voreilig gehandelt. Was wäre denn so schlimm daran gewesen, wenn ich einen Bruder bekommen hätte? Selbst wenn es nur ein Halbbruder gewesen wäre ... was allein ich mit Sicherheit gewusst hätte, meine Mutter hegte nämlich diesbezüglich ebenfalls ihre Zweifel ... Vielleicht wäre er sogar ein Anderer gewesen, in gewisser Weise ein Verbündeter ... Aber was geschehen ist, lässt sich nicht ändern.
    »Und jetzt wird geschlafen!«, befahl ich in lustigem Ton.
    Natürlich baten sie mich, ihnen noch etwas zu erzählen. Doch ich lehnte ab. Es war halb zwölf und ich musste noch an den Strand ... Die Stimmen der Mädchen klangen bereits müde, disharmonisch. Als ich hinausging, versuchte Gulnara, ihnen eine Gruselgeschichte zu erzählen, aber die Pausen und das Gestammel ließen vermuten, dass die Erzählerin nach der Hälfte einschlafen würde.
    Ich ging in mein Zimmer zurück, streckte mich auf dem Bett aus und wartete.
    Was Igor jetzt wohl tat?
    Ob er seinen Kindern auch etwas erzählte?
    Oder mit ein paar Gruppenleitern einen Wodka trank?
    Oder es mit einer Erzieherin trieb?
    Oder friedlich schlief und völlig vergessen hatte, dass er heute Nacht noch im Meer baden wollte?
    Ich schüttelte den Kopf. Nein. Bloß das nicht.
    Er ist zuverlässig. Fast... fast wie Sebulon. Ein komischer Vergleich: Selbst von den Dunklen konnte kaum jemand Sebulon als zuverlässig bezeichnen. Ich schon. Mit gutem Grund. Die Liebe ist eine große Kraft. Und eine seltsame ...
    Und wenn Igor ein potenzieller Anderer war?
    Ich kniff die Augen zusammen, sowohl in süßer Vorfreude wie auch in Panik. Was sollte ich dann machen? Das hieße, sich nicht auf eine Affäre mit einem Menschen einzulassen, was mir Sebulon ja ohne weiteres gestattet hatte. Sondern eine echte Dreiergeschichte anzufangen...
    Was war bloß mit mir los!
    Was für eine Dreiergeschichte? Sollte sich Igor doch ruhig als nicht initiierter Anderer herausstellen! Er würde den Schwanz einziehen und vergessen, dass er sich je mit der Freundin von Sebulon eingelassen hatte!
    Und ich würde es ebenfalls vergessen!
    Die Zeit zog sich unendlich langsam dahin. Die Zeiger der Uhr krochen nachdenklich, träge weiter, als seien sie sich des Laufs der Zeit nicht sicher. Eigentlich wollte ich eine halbe Stunde warten, kapitulierte dann aber nach zwanzig Minuten. Länger hielt ich es nicht aus...
    Ich stand auf und ging leise in den Schlafsaal der Mädchen hinüber.
    Hier herrschte Stille. Die gute ruhige Stille eines großen Schlafsaals voller Kinder, durchbrochen von nur wenigen Geräuschen: dem Atmen, einem Schnaufen, einem verträumten Schmatzen.
    »Mädchen!«, rief ich leise.
    Keine Reaktion.
    Ich ging durch die Reihe der Betten hindurch, berührte sanft ihre Schultern, Arme, Haare ... Nichts... nichts... nichts ...
    Treffer.
    Oletschka.
    Ich hockte mich vor ihr Bett hin und legte ihr die Hand auf die schweißnasse Stirn. Und vernahm ihren Traum, vernahm die strömende Kraft...
    Ein wirrer, ein zusammenhangloser Traum, der nichts mit meiner Gutenachtgeschichte zu tun hatte. Oletschka träumte, sie klettere einen Turm ganz nach oben hinauf, einen alten schiefen Turm mit einer halb zerfallenen Steinbrüstung, in der gewaltige Löcher klafften. Unten, am Fuße des Turms, erstreckte sich entweder eine mittelalterliche Stadt oder ein altes Kloster. Und wie seltsam: Obwohl der Turm im Halbdunkel lag, strahlte unten, an seinem Fuße, die Sonne. Zwischen den verfallenen Häusern liefen Menschen, heitere, fröhliche Menschen in Sommerkleidung und mit Fotoapparaten und bunten Zeitschriften in den Händen. Es ging ihnen gut, sie hatten ihren Spaß, sie dachten nicht einmal daran, in den Himmel zu schauen - und dort das kleine Mädchen zu entdecken, das wie hypnotisiert auf eines der Löcher in der Brüstung zuging...
    Ein wenig sollte ich mich noch gedulden. Abwarten, bis Oletschka nach unten stürzen würde - denn sie würde ganz bestimmt fallen, der Traum ließ kein anderes Ende zu. Ich verstand selbst nicht, was mit mir geschah, doch ich spannte mich an - und saugte ihren Traum auf. Vollständig.
    Sowohl den dunklen Turm, der sich über die heitere Menge erhob, als auch die klaffenden Löcher in der Brüstung, die kalte Gleichgültigkeit und die schwindelerregende Höhe. Alles, was mir Kraft geben konnte.
    Kurz hielt Oletschka den Atem an. Ich befürchtete schon, sie werde

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