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2 - Wächter des Tages

2 - Wächter des Tages

Titel: 2 - Wächter des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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gewesen war.
    Igor schaute mich an und lächelte. Die Jungen sagten etwas und begrüßten mich, aber wir beide wechselten kein Wort miteinander - wir lasen alles in unseren Augen. Sowohl die Erinnerungen an die letzte Nacht wie auch das Versprechen auf die kommende ... auf die kommenden...
    Außerdem lag in seinen Augen noch eine leichte gequälte Sehnsucht. Als ob ihn irgendetwas ungeheuer bedrückte. Mein Geliebter ... wenn er wüsste, wie traurig ich bin ... und wie schwer mir das Lächeln fällt...
    Es ist wohl doch besser, wenn du keine Veranlagung zum Anderen hast, Igor. Sollten die Kolleginnen mich doch ruhig auslachen. Das kann ich ertragen. Von Sebulon wirst du nie etwas erfahren. Und auch von der Tagwache nicht. Und wundern wirst du dich, dass dir plötzlich alles gelingt, dass du Karriere machst, nie erkrankst - all das werde ich dir geben! 
    Igor ließ die Hand über die Saiten gleiten und sah seine Jun-i gen zärtlich an. Dann begann er zu singen-.
     
Ich fürcht mich vor Babys, 
    Ich fürcht mich vor Leichen, 
    Ich taste mir misstrauisch übers Gesicht.
    Und schon hat mich eisiges Grauen erwischt:
    Ja, sollte ich denn all den anderen gleichen?
    Den Menschen, einzeln und zu Millionen, 
    Wie sie über und unter mir wohnen, 
    Den Menschen, die nebenan schnarchen eben, 
    Den Menschen, die unter der Erde leben.
    Ich gäbe für ein Paar Flügel was her, 
    Für'n drittes Auge - das wäre doch was!
    Ein Dutzend Finger pro Hand oder mehr...
    Ich brauche zum Atmen ein anderes Gas!
    Sie lachen heftig und weinen Salz
    Und kriegen niemals genug in den Hals.
    Ihr Bild in der Zeitung - da werden sie froh.
    Doch morgen schon heißt's damit 'runter ins Klo.
    Das sind die Menschen, die Kinder gebären, 
    Die Menschen, die sich in Schmerzen verzehren, 
    Die Menschen, die ihresgleichen erschießen - 
    Und können kein salzloses Essen genießen.
    Sie gäben für ein Paar Flügel was her, 
    Für'n drittes Auge - das wäre doch was!
    Ein Dutzend Finger pro Hand oder mehr...
    Sie brauchen zum Atmen ein anderes Gas. 
      
    In mir regte sich etwas Kaltes und Klebriges. Ein mieses, sehnsüchtiges, auswegloses Gefühl...
    Das war unser Lied. Viel zu sehr ... viel zu sehr ... ein Anderes Lied.
    Ich spürte die Emotionen der neben uns sitzenden Jungen, ich war jetzt schon fast wieder eine normale Andere, die, so schien es mir, im nächsten Moment wieder ins Zwielicht eintreten könnte. Es war wie in der Nacht, als wir Sex hatten - ein quälendes Auf und Ab auf einer Schaukel, ein Balanceakt auf einer Rasierklinge, die Erwartung einer Explosion, ein Absturz ins Bodenlose ... Um uns herum strömte Kraft - die noch zu grob für mich war, keine Brühe aus den nächtlichen Albträumen der Kinder, sondern einfach die Sehnsucht eines pummeligen Jungen nach seinen Eltern: Etwas mit dem Herzen stimmte bei ihm nicht, er spielte nur wenig mit den übrigen Kindern, lief immer hinter Igor her, klebte fast so an ihm wie Oletschka an mir...
    Das war keine Brühe.
    Trotzdem war es beinah das, was nötig ist...
    Ich konnte nicht länger warten!
    Ich beugte mich vor, streckte die Hand aus, fasste den Jungen bei der Schulter und saugte seine blinde Traurigkeit auf. Die mich durchströmende Energie haute mich fast um, aber plötzlich füllte sich die Welt mit grauer Kälte, mein Schatten lag wie ein schwarzes Loch auf den abgewetzten Dielen der Veranda, und ich fiel in ihn hinein, ins Zwielicht, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen...
    ... wie Igor aus dem sich an ihn kuschelnden Aljoschka Kraft zog, einen dünnen fliederfarbenen Energiestrom: die Vorfreude auf Spaß und Abenteuer, Toberei und Entdeckungen, Gejohle und Furcht - das ganze Bouquet von Emotionen und Gefühlen eines gesunden, lustigen, mit sich und der Welt zufriedenen Kindes...
    Ein Lichtes Bouquet.
    Lichte Kraft.
    Den Dunklen das Dunkle.
    Den Lichten das Lichte.
    Und ich erhob mich - zur Hälfte noch in der realen Welt, zur Hälfte bereits im Zwielicht -, dem ebenfalls aufstehenden Igor entgegen, meinem Liebhaber und Geliebtem entgegen, dem Lichten Magier der Moskauer Nachtwache entgegen.
    Dem Feind entgegen.
    Und ich hörte seinen Schrei. »Nein!!!«
    Und ich hörte meine Stimme. »Das darf nicht sein!!!« Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, erwies sich als unzutreffend. Nein, Igor arbeitete nicht gegen mich, setzte keine hinterlistigen Pläne der Nachtwache in die Tat um. Er war seiner Kräfte beraubt - genau wie ich. Er musste sich regenerieren, erholte

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