2001 Himmelsfeuer
wollte mit denen nichts zu tun haben. Trotzdem fühlte sie sich seltsam berührt, als die
Betsy Lain
in Los Angeles vor Anker ging und sie sich beim Blick über die dunstige Ebene fragte, ob die Familie überhaupt noch dort lebte. Sie erinnerte sich nur noch vage an ihren letzten Besuch auf Rancho Paloma vor zwanzig Jahren, da war sie sechs Jahre alt gewesen. Eine Hochzeit sollte stattfinden, dann war etwas passiert – Tante Marina war verschwunden, und alle wurden nach Hause geschickt. Danach hatte es mit der Familie ihrer Mutter keinen Kontakt mehr gegeben.
Während der Pferdewagen sie durch eine flache, parkähnliche, mit Eichen bestandene Landschaft trug, warf Angelique hin und wieder einen verstohlenen Blick auf den Mann an ihrer Seite. Mr. Hopkins hat ein interessantes Gesicht, stellte sie im Stillen fest. Sonnengebräunt und voller Falten, mit einer langen, geraden Nase und tief liegenden, gedankenvollen Augen. Wenn er den Hut abzog, um sich die Stirn zu wischen, sah sie dichtes, welliges Haar, das von der Sonne in einen warmen Goldton getaucht wurde. Ihr gefiel der Klang seiner Stimme, sie war angenehm sanft, und er sprach immer mit höflichen Worten. Er hatte etwas Solides und Aufrichtiges. Sie fühlte sich sicher bei Seth Hopkins.
Seth wiederum wurde von Gedanken ganz anderer Art bewegt. Während sie schweigend dahinfuhren und das besiedelte Gelände allmählich hinter sich ließen, war er bemüht, seine unerwartete Reisebegleitung nicht allzu sehr anzustarren. Sie saß wie eine Königin auf dem Kutschbock, den Rücken kerzengerade, den Sonnenschirm in perfektem Winkel zur Sonne gestellt. In seinen zweiunddreißig Jahren war ihm so ein exotischer Anblick noch nicht untergekommen. Gleichzeitig erstaunte sie ihn. Schwer zu glauben, dass sie wirklich so naiv war, wie sie sich im Hafen von San Francisco gegeben hatte. Er schätzte ihr Alter auf etwa fünfundzwanzig, und sie war verheiratet gewesen. Also musste sie doch über die Realitäten des Lebens Bescheid wissen. Und dennoch hatte sie wie ein Kind in ihrer Situation gewirkt.
Diese Frau war kein Kind, ermahnte er sich selbst und versuchte, seine Blicke von ihrer schmalen Taille, dem weiblichen Schwung der Hüften und den Brüsten, die sich gegen die blaugrüne Seide pressten, fern zu halten. Unter diesem Rüschenrock mussten sich Hunderte von Unterröcken verbergen. Über ihren Brauen und über den rosigen Lippen zeichnete sich ein leichter Feuchtigkeitsfilm ab. Sie roch schwach nach Rosen. Er versuchte, ihre Hautfarbe zu bestimmen. Sie war keine Angelsächsin, ihr Teint also nicht hell. Sie war aber auch nicht braun oder dunkelhäutig wie eine Zigeunerin. Honigfarben, entschied er und spürte, wie ihm die Galle hochstieg bei dem Gedanken an ›Reverend‹ Cyrus Boggs und seine miesen Absichten.
Er warf ihr einen fragenden Blick zu, als sie eine Phiole aus dem Täschchen hervorholte und einen winzigen Schluck daraus nahm. Sie legte das Fläschchen zurück und sagte: »Eine Medizin nach einem Rezept meiner Urgroßmutter. Ein Apotheker in Mexico City bereitet sie mir für die Reise. Wenn ich Kopfschmerzen fühle, trinke ich, und es geht mir wieder gut.«
»Und wenn Sie es nicht trinken?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Señor, mir geht es gut.« Sie würde ihm nichts von den Erscheinungen oder den Stimmen erzählen, die sie während ihrer Anfälle erlebte. Er würde sie für verrückt oder noch Schlimmeres halten.
»Hören Sie«, sagte er mit gedämpfter Stimme, obwohl sie völlig allein waren und nur die Pferde sie hören konnten. »Sie lassen besser das mit dem ›Señor‹. Die Leute hier sind nicht scharf auf Mexikaner. Der Krieg ist ihnen immer noch frisch in Erinnerung.«
Das war er auch für Angelique. Ihr Ehemann war in der Schlacht bei Chepultepec gefallen, und sie würde nie vergessen, welche Ängste sie beim triumphalen Einmarsch der amerikanischen Truppen in Mexico City ausgestanden hatte. »Aber ich bin Spanierin«, sagte sie. »Die Familie meiner Mutter sind Kalifornier. Sie waren die ersten Siedler in Los Angeles.« Sie kramte in ihrem Täschchen und zog eine Daguerreotypie in einem ovalen Rahmen hervor. »Meine Mutter war eine wunderschöne Frau, wie Sie können sehen.«
Seth betrachtete Carlotta Navarro D’Arcys hohe Wangenknochen, die mandelförmigen Augen, den sinnlichen Mund und die Olivenhaut. In ihren Adern floss mehr als nur spanisches Blut. Das konnte ein Blinder sehen. Und die Tochter kam ganz nach der Mutter. Wortlos
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