2001 Himmelsfeuer
entlangziehen sah, ihre Babys und all ihre Habe auf dem Rücken. Ein seltsamer, befremdender Zug.
»Übrigens, Mamá, ich habe Padre Ignacio getroffen. Er lässt fragen, ob wir ihm Papier mitbringen könnten. Und Bücher für Aufzeichnungen.«
Jeder bat um etwas von zu Hause. Auf diesem abgelegenen Vorposten, wo gelegentlich ein Jahr verging, ehe eine Lieferung ihren Empfänger erreichte, war man zwar bemüht, nützliche Dinge wie Kerzen, Schuhe, Decken und Wein selbst herzustellen. Aber mit der Fertigung von Papier klappte es nicht. Auch nicht mit der von Seide oder Gegenständen aus Silber und Gold. Einige Siedler hatten Luisa Briefe anvertraut und Geschenke für Familien in Spanien.
Dankend nahm Angela ihre allmorgendliche Tasse heiße Schokolade von einer indianischen Dienerin entgegen. Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, sagte sie: »Stell dir vor, Mamá, da tauchte doch heute aus dem Nichts heraus ein Schwarm Seemöwen am Himmel auf! Sie kreisten mit lautem Geschrei um mich herum, und dann machten sie auf einen Schlag kehrt und flogen nach Westen, dem Meer zu. Das ist ein Omen, dass unsere Reise glücklich verläuft, ganz bestimmt, Mamá!« Ein Schreck durchzuckte Luisa unvermittelt. Wenn Lorenzo herausfand, dass sie vorhatte, nie mehr wiederzukommen, würde er sie für den Rest ihres Lebens einsperren. Deshalb hoffte sie inständig, dass Angelas Seemöwen wirklich als gutes Omen anzusehen waren, auch wenn sie sich nicht ausschließlich auf Zeichen oder Vorahnungen verließ und sicherheitshalber noch die Fürsprache der Heiligen und der Mutter Gottes erflehte.
Als Angela ins Haus ging, um dort weiterzufrühstücken, wandte sich Luisa wieder ihrer Arbeit zu. Wie wohltuend warm sich die Sonne von California auf ihrem Rücken anfühlte! Der Mohn, den sie sich jetzt vornahm, war eine spezielle Sorte, aus importierten Samen gezogen. Da man aus dem hier einheimischen Mohn kein Opium gewann, hegte und pflegte Luisa diesen hier ganz besonders, pflanzte ihn jeweils nach dem Herbstäquinoktium, dem 23 . September, wässerte und düngte die jungen Triebe, zwickte die ersten Blütenstängel ab, damit anstatt lediglich einer viele Knospen trieben. Und täglich schaute sie nach ihnen, weil es darauf ankam, mit dem Melken der Samenkapseln genau in dem Augenblick zu beginnen, wenn der graue Ring, der die Blütenblätter gehalten hatte, dunkel wurde. Das Melken besorgte Luisa jeweils morgens: Sie ritzte die Kapseln mit einem scharfen Messer ein, um dann tags darauf die weißflüssige Masse abzukratzen und in der Sonne trocknen zu lassen.
Das Geheimnis einer reichen Opiumernte lag darin, dass man die Kapseln richtig einritzte: nicht zu tief, weil sonst die Pflanze rasch abstarb, sondern nur gerade so weit, dass sich im Laufe von zwei Monaten immer wieder Milch nachbildete. Doña Luisa vom Rancho Paloma war bekannt dafür, im Los-Angeles-Pueblo genau das richtige Händchen für derlei Dinge zu haben. Um ihr Laudanum – eine Tinktur aus Alkohol und Opium – riss man sich förmlich.
Während sie vorsichtig die klebrige weiße Substanz aus den Hülsen herausholte und in einen kleinen Lederbeutel tat, dachte sie daran, dass man zu Hause in Madrid, wenn man ein Schmerzmittel brauchte, einfach die nächste Apotheke aufsuchte. Aber hier, in diesem entlegenen Winkel des spanischen Reiches, gab es keine Apotheken. Früher einmal waren Arzneimittel auf dem Landweg aus dem mexikanischen Sonora gekommen, aber nach dem blutigen Aufstand der Yuma-Indianer am Colorado vor elf Jahren war diese Route geschlossen worden. Und da ausländische Schiffe sich nicht in der Nähe der Küste von California blicken lassen durften, die Siedler somit gezwungen waren, auf das unzuverlässige Versorgungsschiff aus Mexiko zu warten, hatte sie damit begonnen, in ihrem eigenen Garten Heilkräuter zu züchten. Der eine oder andere suchte insgeheim Schamanen und Medizinmänner der Indianer auf, viele aber wandten sich an Doña Luisa, die über einen schier unerschöpflichen Vorrat an frischen Kräutern, Salben, Cremes und Tinkturen verfügte.
Jetzt, da sie mit ihrer morgendlichen Beschäftigung fast fertig war und auch noch Zymbelkrautstängel für die Herstellung von Wundsalben sowie Bilsenkrautblätter für Umschläge bei rheumatischen Beschwerden gepflückt hatte, sah sie von der Alten Straße her einen Trupp Reiter auf sich zukommen. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, tauchte kurz die Landschaft in Schatten. Luisa überkam ein Frösteln.
Weitere Kostenlose Bücher