2012 – Das Ende aller Zeiten
erlebt hatte ich es nicht mehr, seit … ich wusste nicht einmal mehr, seit wann. Aber wahrscheinlich wird jeden Menschen ein Hauch davon überkommen, wenn er an irgendetwas aus seiner Kindheit denkt. Vielleicht haben die anderen Kinder sich nach einem Kickball-Spiel vor Ihnen aufgebaut und Sie mit dicken roten Stücken Zedernrinde beworfen, und wenn Sie wissen, wie man sich fühlt, wenn man von allen ausgelacht wird, und wie gern man dann im Boden versinken möchte, dann wissen Sie auch, dass es gar kein Widerspruch ist, diese Rotznasen zu hassen und dennoch auf ihre Anerkennung angewiesen zu sein … andererseits müssten Sie zugeben, dass für Schakal nicht einmal die Hoffnung auf eine Zuflucht bestand. Da gab es keine Eltern, zu denen er nach Hause laufen konnte, keine mitfühlende Schulschwester, kein allmähliches Erwachsenwerden, nichts. Für ihn hatte es immer nur einen Ausgang gegeben, und den hatte er gerade zugeschweißt. Mein Blickfeld verengte sich auf den Arm von 2-Juwelenbesetzter-Schädel, auf die Jadeschuppen um sein Handgelenk, auf den nackten Oberarm mit der Zinnoberkruste, die aufbrechend von seiner erschlafften Haut rieselte, auf einen einsamen Schößling schwarzer Haare, der aus den Schuppen spross wie ein Schlangenkaktus in der Mojavewüste.
Mir wurde schwindelig. Inzwischen hatten wir seit einer Minute keine Luft mehr geholt, und mir tanzten graue Flocken vor den Augen wie damals, als ich mich als kleiner Junge geschnitten hatte und beinahe verblutet wäre. Eine Geierstimme, die offenbar von 2-Juwelenbesetzter-Schädel stammte, stach in das Kohlendioxidrauschen in meinem Kopf; ich glaubte, das Wort luk’kintik aufgeschnappt zu haben, »Schändung«. Da lag etwas in seinem Tonfall, etwas … Zaghaftes? Bittendes? Warme Finger schoben sich in meinen Mund, und obwohl ich den Muskelsinn verloren hatte, war das Gefühl geblieben, in die weiche rote Dunkelheit zu fallen. Rolle ich am Ende doch noch runter, fragte ich mich. Bitte lass mich fallen, fang mich nicht auf, lass mich rollen, ich will nichts anderes.
(29)
Mir wurde klar, dass ich die Größe der Kiste seit längerer Zeit erspürt hatte, ohne sie zu sehen oder zu fühlen. Sie war ein bisschen zu kurz, als dass ich mich darin ausstrecken, und ein bisschen zu niedrig, als dass ich mich aufsetzen konnte. Was mir ganz recht war. Nichts auf der Welt wollte ich lieber, als mich zusammenkrümmen.
Juckt. Auge juckt. Kratzen.
Kann nicht. Hände irgendwo festgebunden.
Durst.
Ich versuchte zu schlucken und konnte den Mund nicht schließen. Schließlich schaffte ich es irgendwie, aber er war so trocken, dass es umso schlimmer wurde. Autsch. Verflucht.
Ich hatte das Gefühl, in Fötushaltung auf der linken Seite zu liegen … nein, eher auf der rechten. Ein Arm fehlte. Oder, hmm, wahrscheinlich war er unter mir eingeklemmt. Von der Schulter an taub. Rechter Fuß auch weg. Oder linker. Wäre leichter zu sagen, wenn ich was sehen könnte. Jedenfalls war die erdzugewandte Hälfte meines Körpers taub. Und die obere Seite war ein Sammelsurium an Schmerzen und Verspannungen.
Juckt. Ich merkte, wie ich mich wand und versuchte, mir das linke Auge an der Wand der Kiste zu schubbern. Geschafft. Ah. Erleichterung.
Hu.
Ich dachte, ich hätte zu zappeln aufgehört, doch da war noch eine gewisse Bewegung. Nein, die kommt nicht von mir. Die Kiste selbst bewegt sich. Hin und her. Nein, sie schaukelt. Ich bin irgendwo aufgehängt. Wie hoch? Ich schabte mit der Wange über die Kistenwand. Sie war knotig und nachgiebig. Keine Holzkiste, Flechtwerk. Ich bin in einem Korb. In einer Korbtruhe.
Ja, das ist einleuchtend: keine Kanten, um sich die Pulsadern aufzuschneiden, kein harter Boden, um sich den Kopf daran einzurennen, im Grunde eine Gummizelle. Sie wollen mich lebendig. So halbwegs. Kein Wunder, dass ich den Mund nicht zumachen kann. Da steckt ein Knebel drin, damit ich mir nicht in die Zunge beiße und verblute. Ich streckte mich ein bisschen, dann rollte ich mich ein wenig herum, drückte mich gegen die Wände der Kiste. Sie war etwa einen Arm breit und zwei Arme lang – irgendwo in meinem verquirlten Hirn bemerkte ich, dass ich nicht in Fuß oder Metern dachte, sondern bereits in Armlängen, einem Maß der Maya, das etwa fünfundsechzig Zentimetern entsprach –, und zumindest glaubte ich zu spüren, dass sie etwa eineinhalb Arme hoch war … das heißt, längst nicht hoch genug, um mich hinzustellen, nicht lang genug, um mich zu strecken,
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