2012- Die Rückkehr
starkes Déjà-vu-Gefühl. Ich habe diesen Augenblick schon einmal erlebt.«
»Wie bitte?«
»Genau diesen Augenblick. Ich habe ihn schon einmal erlebt. Das haben wir beide.«
Der Rabbi wirkt erschrocken. »Wer hat dir das gesagt?«
»Niemand. Es ist einfach so.« Der Junge klettert auf den Schoß des Rabbi und mustert den Bildschirm.
Jacob Gabriel spricht kein Hebräisch, und dennoch starrt er die Worte fasziniert an. »Da ist etwas.«
»Was meinst du damit?«
»Buchstaben, die hervorstechen. Aber man kann es nur schwer erkennen.«
Steinberg beugt sich näher an den Bildschirm heran und liest einen Abschnitt. »Ich finde, es sieht alles normal aus. Wie wär’s, wenn wir eine Zeit ausmachen würden, zu der wir gemeinsam arbeiten? Ich kann dir das hebräische Alphabet beibringen und …«
»Es ist der Raum zwischen den Wörtern. Alles gerät durcheinander und vermischt sich, sodass es noch schwieriger wird, die Muster zu sehen. Computer, schließ alle Zwischenräume zwischen den Wörtern und Sätzen.«
Der Text erscheint in neuer Anordnung auf dem Bildschirm.
»Wow …« Jacobs strahlend blaue Augen werden immer größer, als die Buchstaben des Textes dreidimensionale Muster zu bilden beginnen. »Siehst du, jetzt treten die Dinge viel deutlicher hervor.«
Steinbergs Herz rast. »Welche Dinge?«
Der Junge deutet auf eine Zeile. »So wie diese Buchstaben. Bedeuten sie irgendetwas?«
»מימיהירתא.« Ein wenig bleich im Gesicht, sieht der Rabbi den Jungen an. »Sie bedeuten ›Ende aller Tage‹. Wie hast du es geschafft, gerade die auszuwählen …«
»Und jetzt die hier.« Jacob deutet mit dem Zeigefinger auf einen Buchstaben, fährt dann drei Zeilen nach unten
und ein Zeichen nach links und zeichnet das Muster nach, bis er ein Wort gebildet hat.
». Atomare Vernichtung. Jacob, woher weißt du …«
»Und dann diese Buchstaben.«
»Schon kapiert. Du treibst eines deiner berühmten mentalen Spielchen mit mir. Sehr clever!«
»Sag mir einfach, was diese vier Buchstaben bedeuten!«
Der Rabbi sieht ihn unsicher an. Blinzelnd sucht er den Bildschirm ab. ». Das ist ein Jahr. 5772.«
»In der Zukunft?«
»Nein. Im hebräischen Kalender. Es entspricht dem Jahr … 2012.«
Jacob schließt die Augen und rezitiert. »Ende aller Tage. Atomare Vernichtung. 2012. Es ist alles da …«
»Okay, Jacob. Schluss damit. Wer hat dir das verraten?«
»Niemand.«
»Du hast im Unterricht etwas über den Bibel-Code gelesen, stimmt’s?«
»Die Bibel hat einen Code?«
»Es reicht. Ich werde nicht länger auf diesen Unfug reinfallen.«
Jacob springt von seinem Schoß. »Sag’s mir!«
Der Rabbi sieht die Verzweiflung in den Augen des Jungen. Er meint es wirklich ernst …
»Verborgen im hebräischen Originaltext der Thora existiert ein Kryptogramm - verschlüsselte Botschaften, die sich auf die Geschichte der Menschheit beziehen. Isaac Newton war der Erste, der diesen Verdacht hatte, aber erst Ende der Neunzigerjahre mit dem Aufkommen des Computers war ein israelischer Mathematiker in der Lage, sie zu entdecken.«
»Dann ist der Bibel-Code also echt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du lügst. Sag mir die Wahrheit.«
»Ich lüge nicht. Wenn man den Leuten folgt, die den Code geknackt haben, dann ist er echt. Wenn man den Theologen folgt, dann ist das alles Schwachsinn.« Steinberg mustert das Gesicht des Jungen. »Du hast das wirklich nicht gewusst, oder?«
»Aber wenn er die Zukunft vorhersagt, dann sollten wir doch alle …«
»Er sagt die Zukunft nicht vorher. Der Talmud lehrt uns, dass alles vorherbestimmt und der Mensch in seinem Handeln zugleich frei ist. Mit anderen Worten: Was im Text der Bibel verschlüsselt sein mag, könnte eine Warnung vor einer möglichen Zukunft sein. Was sich tatsächlich ereignen wird, bestimmen wir durch unser Handeln, durch das, was wir tun.«
»Aber …«
»Kein Aber. Das Problem beim Bibel-Code ist, dass man wissen muss, welche besonderen Wörter oder Wendungen man zu suchen hat, wenn man feststellen will, ob ein Muster existiert oder nicht. Und jetzt sag mir, woher du wusstest, wonach du zu suchen hattest.«
»Ich wusste es nicht. Bestimmte Buchstaben sind mir einfach ins Auge gesprungen.«
Rabbi Steinberg spürt, wie ihm das Blut aus dem Gesicht strömt. Wenn er den Text wirklich nur anschauen muss, um die Muster zu erkennen, dann … mein Gott.
»Bring mir bei, Hebräisch zu lesen, Onkel Rich. Bring’s mir sofort bei.«
9
10. Oktober 2020
Belle Glade,
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