2012- Die Rückkehr
befindet.
20.10 Uhr Der Motelangestellte zupft an seinem Spitzbart herum, als Lilith fünf zerknitterte Zwanzig-Dollar-Scheine, die sie aus Quentons Brieftasche gestohlen hat, vor ihn auf die von Kaffeeflecken übersäte Empfangstheke legt.
»Das müsste für den Rest der Woche ausreichen, was das Zimmer meines Onkels betrifft.«
Der Angestellte streicht das Geld ein und reicht ihr den Schlüssel, den er einen Augenblick zu lange festhält. »Gib mir Bescheid, wenn ich sonst noch etwas für dich tun kann.«
Sie ignoriert sein lüsternes Grinsen und geht nach draußen.
Don Rafelo erscheint hinter einem geparkten Wagen. Er folgt ihr ins Zimmer 113.
Die Luft im Zimmer ist muffig, und es riecht nach Schimmel. Lilith schaltet die uralte Klimaanlage ein, die ratternd zum Leben erwacht. »Okay, Onkel Don. Ich habe alles genau so gemacht, wie du es haben wolltest, und jetzt würde ich gerne wissen, wie du mich gefunden hast.«
Don Rafelo legt sich auf eines der beiden nebeneinanderstehenden Betten und starrt sie an. »Ich habe dich nie aus den Augen verloren, nicht einmal als deine Eltern versucht haben, mir zu entkommen, indem sie nach Amerika geflohen sind. Ich war es, der die Ehe deiner Eltern arrangiert hat.«
»Warum?«
»Wegen ihrer Herkunft. Jeder von uns besitzt eine bestimmte Art von Lebenskraft, die man im Westen höchst ungenau als Seele bezeichnet. In deinen Genen sind zwei mächtige, Leben spendende Kräfte verankert. Die erste wurde durch die Vereinigung zweier uralter Abstammungslinien vor langer Zeit geschaffen; bei einer davon handelt es sich um eine Maya-Blutlinie, die bis in die Tage von Kukulkan zurückreicht; die andere ist aztekisch und geht auf Quetzalcoatl zurück. Es ist jedoch die zweite Lebenskraft - aus der Rafelo-Linie -, die es uns ermöglicht, uns der dunkleren Kräfte des Universums zu bedienen. Diese dunkle Kraft jagt dich über die Erde wie einen kalten Wind. Ihre Form ist spirituell, doch sie besitzt die Fähigkeit, die andere Kraft zu manipulieren.«
»Das verstehe ich nicht. Wo ist diese dunkle Kraft? Woher kommt sie?«
»Von einem anderen Ort, aus einer anderen Zeit. Du wirst ihre Gegenwart spüren, wenn du unserer Heimat
und dem Golf von Mexiko näher kommst. Die dunkle Kraft ist mächtig. Sie strömt auf dich zu, um dich zu umschließen. Sie war es, die mich aus Morelos hierhergerufen hat, um dich zu führen.«
Liliths azurblaue Augen werden immer größer. »Ich will diese Kraft besitzen. Lehre mich alles darüber.«
Der alte Mann grinst. »Genau deswegen bin ich gekommen.«
Als Lilith Robinson zufällig auf die Habseligkeiten ihrer Eltern stieß, entpuppten sich diese als wahre Fundgrube an Informationen über das Leben ihres Großonkels Don Alejandro Rafelo, eines Mannes, dessen Wurzeln bis ins Frankreich des vierzehnten Jahrhunderts zurückreichten, sowie über Grégor Rafelo, einen seiner Vorfahren.
Grégor Rafelo wurde im Jahr 1397 unweit von Paris geboren. Wie sein Vater vor ihm machte er schnell beim Militär Karriere und wurde Mitglied einer besonderen Gruppe von Wachsoldaten, die unter dem Befehl von Gilles de Rais standen. Kompetent und tapfer wie er war, wurde Grégor der Leibgarde von Johanna von Orléans zugeteilt, und in einem Blutbad nach dem anderen kämpfte er mehrere Schlachten an ihrer Seite.
Nach der Befreiung von Orléans im Jahr 1429 kehrte der zweiunddreißigjährige Rafelo nach Hause zu seiner Familie zurück, verstört angesichts all der Dinge, die er gesehen hatte. Einige Monate später wandte er sich der Religion zu, sagte sich vom katholischen Glauben los und schloss sich den Albigensern an.
Die Albigenser (die ihren Namen von der Stadt Albi in Südfrankreich hatten) vertraten eine besondere Spielart des damals sehr verbreiteten Manichäismus und glaubten, dass ein Gott des Guten und ein Gott des Bösen getrennt und unabhängig voneinander existierten. Für die
Albigenser war Christus der Gott des Guten, der während seines Aufenthalts auf der Erde zu einem Engel mit einem Phantomkörper wurde, welcher es ihm ermöglichte, in Gestalt eines Menschen zu erscheinen. Der Gott des Bösen war Satan. Er war dafür verantwortlich, dass die Seele eines Menschen in seinem irdischen Körper gefangen ist.
Die Albigenser glaubten, dass ein Mensch, der ein tugendhaftes Leben führte, nach dem Tod die Freiheit seiner Seele erringen konnte. Wem es jedoch nicht gelang, tugendhaft zu leben, dessen Seele würde als Mensch - oder möglicherweise
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