2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
Fantasielosigkeit, aber ich glaubte, ein Schnüffeln zu hören: Die große Katze prüfte meine Witterung. Ich taumelte zurück und fing mich. Pass auf. Es fühlte sich gefährlich toll an. Eines kann ich Ihnen versichern: Der Augenblick, in dem intensiver Schmerz nachlässt, ist der tiefste und wahrhaftigste Frieden, den man sich vorstellen kann. Besonders, wenn man sich diesen Schmerz selbst zugefügt hat. Wenn man in das eintauchen kann, was man am meisten fürchtet, und dort treiben kann, ohne an die Oberfläche zu kommen, ehe man dazu bereit ist, wird alles anders: Die Welt wirkt verwaschen, und jede Spitze der zehn Milliarden Polygone pro Sekunde, aus denen die Wirklichkeit zusammengesetzt ist, sticht spitz wie eine Scherbe in die Malpighische Schicht, als wäre man eine Kugel aus holografischem Film, der jedes Photon auffasst, das von einer Facette der Welt zurückgeworfen wird.
Vor mir kniete sich ein Akolyth hin, quetschte kleine Klumpen aus schmerzstillendem Honigkalk in die beiden Wunden in meinem Penis und wickelte ihn wieder in seine blutigen Bänder. Das Schnüffeln ging in ein Schnurren über. Meine Maske senkte sich über meinen Kopf, mein Rückengestell verwuchs mit meinem Oberkörper und schnürte sich mit vierhundert schneidenden Riemen in achthundert unsichtbaren Händen von selbst zu.
Er gebiete mir, näher zu kommen, sagte der Dolmetscher.
Ich stellte mich auf die erste Stufe, seitwärts zur Steigung. Die Treppe hatte fantastisch hohe Stufen, 55,88 Zentimeter laut der Karte der Brigham Young University, und wir waren kleine Menschen: Als ich auf der ersten Stufe stand, war die nächste zwischen meinem Knie und der Leistengegend. Um sie zu ersteigen, musste ich auf meinem Holzbein balancieren, das intakte Bein mit seinem Stelzenschuh so hoch als möglich heben, als wäre ich eine Eleve beim Ballett, es auf die höhere Stufe stellen, mein Gewicht darauf verlagern und das Holzbein hinter mir hinaufziehen. In die Kante jeder Stufe hatte ich ein kleines Loch bohren lassen, ähnlich wie bei dem Decksweg für Kapitän Ahab, damit ich jedes Mal den in der Sohle versteckten Dorn dort einsetzen konnte. Doch als ich die zweite Stufe erklomm, schwankte ich beim Hochziehen und hatte Schwierigkeiten, den Dorn in das Loch zu bekommen; als ich es endlich traf, schwankte ich zur Seite und bekam Panik, bis ich mich fing, mein Gleichgewichtszentrum wiederfand und aufrecht stand. Holla, dachte ich. Pass bloß auf.
So ein Mist. Noch zweihundertvierundfünfzig Stufen. Wenn ich das schaffte, dann wirklich nur durch göttliche Intervention.
Die Schläger signalisierten die nächste Stufe. Okay. Die nächste. Los. Ich musste alle fünf Schläge eine Stufe erklimmen. Dass ich verstümmelt war, hatten wir dabei unberücksichtigt gelassen. Wenn wir die Anforderungen änderten oder irgendwo schummelten, würde ich zu viel von meiner ohnehin nicht gerade wasserdichten Glaubwürdigkeit einbüßen.
Ich hatte es geübt, natürlich, aber nur an einem vierzigstufigen Nachbau, aber ich hatte mich dabei alles andere als brillant geschlagen. Ich war noch zu krank gewesen, als dass wir einen Blutverlust riskieren konnten. Jetzt wurde es auch noch windig und dunkel. Vor allem aber fühlte ich mich beschissen. Schon ohne diesen verdammten hoch aufragenden Adler-Kopfputz wäre es mir besser gegangen. Und ohne die krallenbewehrten Elton-John-Plateauschuhe natürlich auch. Mir kam es allmählich so vor, als hätte ich mit den Dingern keine große Chance. Wieder hob ich den Fuß. Dabei zuckte mein Blick nach oben, auf das Heiligtum zu …
Ojeoje. Ich steckte in der Tinte.
Die Treppe ging weiter und immer weiter, doch es war nicht einmal der entsetzlich steile Winkel von einundfünfzig Grad, der mich so deprimiert hatte, sondern die Ununterbrochenheit dieser Treppe, die subtile Fremdartigkeit, die durch das Fehlen jedes Geländers entstand, das Fehlen jedes Absatzes, jeder Wendung zwischen den Abschnitten, das Fehlen all dieser kleinen und selten bemerkten Freundlichkeiten, die sämtliche Treppen im Rest der Welt aufweisen. Diese Treppe hier strahlte völlige Menschenfeindlichkeit aus. Sie verkörperte Architektur als Waffe – nicht nur durch ihre völlige Missachtung von Bequemlichkeit und Sicherheit, sondern durch ihr Bestreben, einen niederzumachen, einen zum Hochsteigen zu verleiten und dann ausrutschen zu lassen und zu Brei zu zerschmettern. In der Architektur der gesamten restlichen Welt hatte es nie etwas wie diese Treppe
Weitere Kostenlose Bücher