2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)

gegeben und würde es nie etwas wie diese Treppe geben.
    Du hast keine Chance, dachte ich. Gib auf.
    Nix da. Denk nicht mal dran.
    Die reißen dich in Stücke. Auch jetzt noch. So sehr lieben sie dich auch wieder nicht. Soweit ich es wusste, hatte man alle Ahauob’ und Addierer, die von der Treppe gefallen waren, posthum enteignet und aus den Chroniken getilgt. Das hier war die eine Sache, bei der man es sich einfach nicht leisten konnte zu kneifen. Das Risiko, auf diesen Stufen zu sein, war ein unverzichtbares Stück Wirklichkeit in diesem Götterurteil.
    Ich schob mich zur dritten Stufe hoch und spürte, wie mir Gelenkflüssigkeit aus dem Knie schoss. Ich knickte ein, krümmte mich und bekam meinen Dorn fast rechtzeitig ins Loch. Wirklich, ich könnte diese Treppe hochfliegen, dachte ich. Ich meine, wenn ich nicht verkrüppelt, betrunken und ausgeblutet wäre und auf Stelzen ginge …
    Hör auf zu jammern! Halt einfach das Maul und tu’s!
    Vierte Stufe. Ich drückte mich hoch, schneller als ich sollte. Mein schweißtriefender Fuß rutschte auf dem Gips vor. Jesus Christus, pass auf, zur Hölle, pass auf. Langsamer. Spar deine Kraft. Du bist nicht mehr die Sportskanone, die Schakal einmal gewesen ist. Du hast das eine Match ganz gut gespielt, aber es hat dich mehr oder minder unbrauchbar gemacht. Auch ohne die Verletzungen, die du dir späterzugezogen hast. Ruhig. Schlag. Fünfte Stufe. Ich spürte Blicke, die auf meinen Rücken drückten. Meine Sippenleute und ihre Sippenleute, Addierer und Geblüte und Abhängige, alle sahen sie zu mir auf – oder eher hoch. Ich konnte ihr Bedürfnis spüren, auf mich zu vertrauen, und ich spürte die Last der Verantwortung – all das Zeug, das so abgeschmackt klingt. Wie auch immer, nur noch zweihunderteinundfünfzig Stufen. Keine große Sache.
    Sechste Stufe.
    Ganz gleich, womit ich es sonst je zu tun hatte – die Ersteigung dieser Treppe in meinem Zustand war das absolut Extremste, zu dem ich mich je gezwungen habe. Noch immer kommt es mir vor, als hätte es länger gedauert als mein ganzes Leben davor und danach zusammengenommen. Ich erinnere mich an den Schmerz, der bei jedem einzelnen Schritt auf einzigartige Weise unterschiedlich gewesen ist, sodass für mich jede Zahl zwischen null und zweihundertfünfundfünfzig eine unauslöschliche Assoziation besitzt. Diesen Aufstieg zu Ende geführt zu haben ist das Einzige, für das ich mich je rühmen möchte, denn ich habe es durchgestanden, obwohl ich mich entschlossen hatte, aufzugeben und zu sterben.
    Ja, ich habe es geschafft. Aber danach war ich sicher, mich nie wieder zu irgendetwas aufraffen zu können, und ich glaube auch nicht, dass ich mich noch daran erinnern konnte, wer ich war. In der Luft hinter mir schwang die Erleichterung, doch über das Brüllen des Blutes in meinen Ohren hinweg konnte ich nichts hören. Die oberste Ebene der Mul besaß tatsächlich vier Etagen: die scharlachrote Bodenetage des Heiligtums, eine schwarze Stufe, die daraufführte, eine breite türkise Vorstufe darunter, und eine zweite, schmalere schwarze Vorstufe, ehe man auf die eigentliche Treppe gelangte. Ich bekam meinen Holzbeindorn in das Loch am Rand des Schwellensteins und blickte in den Rachen der Mul. Er war mit Perlmuttstacheln besetzt wie die Hornzähne im Saugmaul eines Neunauges. Ich schwankte auf meinem Fleisch-Bein; die Leere hinter mir saugte an meinem Rücken und wollte mich in die große Leichtigkeit ziehen. Pass auf! Genau damit vermasselst du es noch, dachte ich. Dauernd machte ich irgendetwas kurz vor Schluss zunichte. Da hatte ich alles durchgestanden, warmit den Drogen und dem Mädchen hier und hatte alles großartig eingefädelt, und dann wischte ich auf den letzten Schlag alles beiseite? Niemals. Ich fand mein Gleichgewicht wieder und ließ das Brüllen verhallen, bis um mich nur Schweigen war.
    »Ahan Bolom« , sagte ich. »Erwache, Ozelot,
    Weißer Norden, schwarzer Westen, gelber Süden, roter Osten und türkises
    Hier und Nah bieten dir unseren Mais, unsere Kinder.«
    Ich hörte ein Einatmen, das einem weiteren Schnurren wich, und dann ein Rumpeln zusammengedrückter Materie wie das Ross-Schelfeis, das zu kalben ansetzt. Das Geräusch lief in ein langes Rasseln und ein Krachen aus, als ränne Lava den Mount Erebus hinunter auf die Eisschichten. Ich wusste, dass es die Orchester rings um mich waren, die die Gerüste unter ihren Baumtrommeln zerschnitten und sie zusammenbrechen und auf die Steine knallen ließen,