2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
aus den Schreien der Opfer weissagen lassen wollte, aber in diesem Fall hätte es nur die Anrufung verdorben, wenn der Junge ausgeflippt wäre.
Nun wickelten die Opferer der Ara-Sippe ihr Geschenk aus, einen kleinen Jungen an seinem ersten Jahrestag der öffentlichen Namensgebung, was bedeutete, dass er knapp vier Jahre alt war. Sie führten ihn an die Mul, und die Unsichtbaren taten so, als zögen sie ihn an seinem mit Blumen besetzten blauen Band zu mir hoch. Tatsächlich trugen sie ihn hinauf, setzten ihn auf jeder Stufe ab und hoben ihn auf die nächste. Der Ara-Junge stand nicht allzu sehr unter Drogen, und schon auf der dritten Stufe merkte man ihm an, dass er furchtbare Angst hatte. Auf irgendeine Weise begriff er, was vor sich ging, denn er stieß Laute aus, die zwischen Wimmern und Kreischen lagen.
Das wird mich wohl völlig mitleidslos erscheinen lassen, oder? Ich hatte schon früher meinen Frieden mit dem gemacht, was hier passieren würde, während ich zusammen mit Kohs Vertreterinnen die Hochzeitsproben absolvierte, aber ich war natürlich trotzdem ein Dreckschwein, weil ich es überhaupt mitmachte. Nur sah ich keine andere Möglichkeit. Ich befolgte bloß Befehle.
Und vergessen Sie eines nicht: Das war eine große Zeremonie, und wir erledigten trotzdem nur neun oder zehn Menschen, also war es nicht gerade Völkermord, oder? Ich meine, es war natürlich nicht toll, aber wir verzichteten wenigstens auf diese niemals endenden Schlachtfeste, wie die Azteken sie später angeblich veranstalteten, wo Jung und Alt unterschiedslos hingemetzelt wurde. Sie verbrauchten an einem ganz normalen Tag zehnmal so viele Menschen wahrscheinlich schon vor dem Frühstück. Andererseits hätte ich jedem empfohlen, sich lieber von den Azteken gefangen nehmen zu lassen als von den Maya. Denn wir – die Maya, meine ich – sind sehr viel erfinderischer gewesen, was Foltermethoden anging. Die Azteken brachten einen einfach nur um.
Und überhaupt, überlegen Sie mal den Zusammenhang. Wir – ich meine damit wieder uns Ixob’-Typen – ahmten Gott nach, indem wir so fies waren wie nur möglich. Gott genießt es offenbar, kleineKinder zu töten, oder nicht? Wir taten wenigstens nicht so, als würde es Gott keinen Spaß machen, unschuldige Menschen zu quälen oder zuzuschauen und dabei vorzugeben, es nicht zu bemerken.
Mir jedenfalls war nicht übel, mir tat es nur leid. Aber was bringt es, wenn ich es überhaupt erwähnte? Leidtun nutzt ja nun wirklich gar nichts.
Unten auf dem Zócalo packte nun die Harpyien-Sippe ihr Geschenk aus. Er war ein ehemaliger, nun enterbter Adoptivbruder von mir: 18-Sprung, 2-Juwelenbesetzter-Schädels Lieblingsneffe. Man hatte ihn in das 2-Juwelenbesetzter-Schädel-Kostüm vom Maskenspiel eingenäht, aber er war nicht der Tänzer gewesen, der 2-Juwelenbesetzter-Schädels Partie gespielt hatte: Bei 18-Sprung waren wir uns nicht sicher gewesen, ob er sich wirklich an das Drehbuch halten würde. Ich blickte über den Zócalo auf den Zentralraum des Mattenhauses, wo 2-Juwelenbesetzter-Schädel gezwungen wurde, aus seinem Käfig zuzuschauen, aber es war dort drinnen zu dunkel, als dass ich ihn hätte erkennen können.
Die Unsichtbaren streiften 18-Sprung die Insignien ab und wickelten seine Begleitung aus fünf Zwergen aus, die so verfettet waren, dass sie tischfertig wirkten wie Kinder in Truthahnkostümen bei der Schulaufführung eines Thanksgiving-Stücks. Doch auch sie waren keine offiziellen Opfer und kamen nicht in den Gemeinschaftstopf. Sie waren dabei, weil 18-Sprung auch als Gefangener noch einem Großen Haus angehörte und ihm nach wie vor Diener zustanden, die ihn auf der Straße, die aus dieser Ebene führte, bei guter Laune hielten. Zwerge gingen immer. Die Unsichtbaren führten ihn hoch. 18-Sprung ging steif voran – er war 23 Sonnenjahre alt und nach allem, was ich wusste, weder so schnell noch so kräftig wie sein berühmter Onkel –, und die Zwerge folgten. Sie hatten auf den hohen Stufen zu kämpfen und zogen das perlende Gelächter des Publikums auf sich. Auf mich wirkten sie nicht sonderlich ästhetisch, mehr wie Grobi, Hirni, Schmieri, Brummi und Blödi, nur fehlten ihnen Bärte und Zipfelmützen, aber sie passten zusammen, waren ausgebildet und mussten eine Menge gekostet haben. Auf jeden Fall wartete das Publikum auf das Finale.
Sie kamen an die Schwelle. 18-Sprung stand einfach da wie Jesus, bis sie ihn über den Tisch streckten. Ich hörte, wie ein paar seiner
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