2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
Fliesen auf der »Ost«-Seite – die in Wahrheit nach Norden zeigte – hatten die Blaus und Graus des Zwielichts angenommen. Lichtschein aus Fenstern und nachgemachte Neonreklamen mit mayaesken Hieroglyphen in neuen décoesken Schriftarten schalteten sich flackernd ein. Die Stadt erinnerte dadurch ein wenig an Syd Meads Bühnenbilder für Blade Runner, nur ohne die grungemäßige gewollte Schmuddligkeit.
»Ziemlich gottlos, was?«, fragte Max.
»Deine Mom ist sehr begabt«, sagte ich.
»Tony sagt, ihm ist egal, was wir fürs Abendessen bestellen«, sagte er. Er hatte sich die Figur des Sternenrasslers genommen, löste die Segmente voneinander und setzte sie in neuer Reihenfolge wieder zusammen.
»Alles, solange es nichts Indisches ist«, sagte Marena.
»Was hast du auf deinen Sleekers schon gemacht?«, fragte Max. Er musste sie im Flur gesehen haben. Nicht viel bisher, antwortete ich. »Guck dir das an«, sagte er. Er kehrte in den Flur zurück, rannte durch die Tür herein, setzte in einer eingeübten Bewegung auf einer Hand über den Tisch hinweg und wich dabei dem Dickicht der Monitore aus. Offenbar hatte er seine Sleekers mitten in der Luft aktiviert, denn er kam gleitend zu Boden. Als er gerade durch die Terrassentür zu krachen drohte, lenkte er seine Bewegung in eine Pirouette um, zog die Arme an den Körper und sah mir immer wieder ins Gesicht. Wir sagten: »Wow!«
»Nee, das war nicht gut«, sagte er. »Ich mach es gleich noch mal.« Er machte es noch mal. Wir versicherten ihm, wie toll er es machte und dass es unsere Freude an seiner erstaunlichen, unschlagbaren Größe schmälern würde, es ein drittes Mal zu sehen. Marena fragte mich, was ich als »eine Art Abendessen« haben wollte. Ich erwiderte, ich hätte nicht vorgehabt, mich von ihr zum Essen einladen zu lassen, aber sie wollte nichts davon hören. Sie sagte, sie habe Max bereits auf eine »vegetarische Auswahl« koreanischer Gerichte heruntergehandelt und er gehe jetzt bestellen.
Fuckez moi, dachte ich. Ich war mir schon oft wie eine Flasche vorgekommen, aber es war viel schlimmer, der schlechteste Mensch zu sein, der je gelebt hat, und dann sogar noch schlechter zu werden. Ich bin der Schurke in der Geschichte, dachte ich. Na schön. Max ist noch in dem Alter, wo die Dinge interessant wirken. Für ihn ist es besser, wenn er nicht mehr da ist, ehe er herausfinden kann, wie die Welt wirklich ist.
»He, und lass die Finger von den Krispy Kremes«, rief Marena ihm nach.
»Max ist wirklich prima«, sagte ich.
»Oh, definitivement« , sagte sie. »Als Mutter setzt man sich von alleinganz andere Prioritäten, was wirklich wichtig ist. Rate mal, als was er morgen geht!«
»Morgen?«
»Halloween.«
»Oh.«
»Er geht als Dick Cheney. Er hat in der Schule ein Referat über ihn gehalten.«
»Meine Güte.«
»Wo wir vom Datum reden … mir fällt ein, ich hab was für dich.«
Ach ja, richtig, dachte ich. Ich habe Geburtstag. Für uns Maya ist der Tag der Taufe – meiner kam drei Tage später – viel wichtiger, aber das wusste Marena wahrscheinlich nicht. Sie reichte mir etwas, bei dem es sich eindeutig um ein Buch im Elefantenfolioformat handelte, geschickt eingeschlagen in blaues, mit Genji-Wolken bedrucktes kozo gami . Ich öffnete es vorsichtig, ohne es zu zerreißen, und brachte eine Ausgabe von Stepanwalds Curious Antiquities of British Honduras aus dem Jahre 1831 zum Vorschein. Ich musste ihr erzählt haben, dass mir mein Exemplar abhandengekommen war und ABE kein anderes finden konnte.
»Wow«, sagte ich, dankte ihr begeistert und blätterte durch das Buch. Die Kupferstiche – und ein paar Radierungen – waren so scharf, als wären sie erst gestern gedruckt worden.
»Das ist toll«, sagte ich. »Dort …«
Moment.
Hmm.
Hölle.
(6)
Man sollte eigentlich meinen, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits darüber hinweg gewesen wäre, aber ich spürte, wie ein gutes Gefühl in mir aufwallte, gemischt mit einem schlechten Gefühl. Ich konnte diese Emotionen nur nicht so richtig benennen. Ich glaube, das gute Gefühl war so was wie Behaglichkeit oder lauschige Wärme, und das schlechte war … Schuldbewusstsein? Nein. Auf keinen Fall. Na ja, vielleicht. Mann, es entgleitet dir. Widerruf, Widerruf! Du hast das Richtige getan. Und du wusstest vorher, dass es solche Augenblicke wie den hier geben würde. Du musst einfach nur die nächsten zweiundfünfzig Tage hinter dich bringen. Und das schaffst du nur auf eine Weise: durch
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