2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
sechs Klackern der Steine auf dem dicken Holz. Ich fand schon immer, dass es zu den verstörendsten Dingen im Leben gehört, wenn es zum falschen Zeitpunkt innehält, und diesmal fühlte es sich außerordentlich falsch an, ein fremdartiges Zwischenspiel, bei dem nichts passiert, obwohl man mitten im … Na ja, vielleicht kommt es auch nur mir falsch vor.
Verdammt, wo blieb Max? Wie konnte es so lange dauern, bis koreanisches Essen geliefert wird? Als würde es Zeit kosten, zehn Töpfe mit diversem Gimchi zu öffnen!
Ich konzentrierte mich wieder auf das Spielbrett. In den ersten Stadien eines Go-Spiels kommt es einem vor, als würde man entlang einer weiten, menschenleeren Grenze Festungen errichten. Jetzt aber, nachdem es fast halb vorbei war, rückten die Steinbilder in den Blickpunkt – Kreuze, Blumen, ein Pudel, eine lange schwarze Treppe, die aus Marenas zweiter Ecke aufstieg und sich unweit der Mitte zu einem aufgerissenen Maul spaltete, wie die Sternenrasslerpfosten in Chichen. Ich schob mich durch eine Lücke in der Treppe und schlug auf die Uhr, vielleicht ein bisschen zu gut gelaunt.
Marena zog nicht. Eine Minute. Sie biss sich erneut auf ihren offenbar lästigen Fingernagel, bemerkte, was sie tat, zog die Hand weg und klemmte sie unter ihrem Bein fest. Zwei Minuten.
»Verdammt«, sagte sie bei zwei Minuten und achtzehn Sekunden. Ihre größte Gruppe war in echten Schwierigkeiten. »Das ist nicht gut.«
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Gar nicht gut. Vielleicht solltest du mir nächstes Mal drei Steine vorgeben.«
»Dir sollte ich nicht mal zwei Steine vorgeben.«
»Ich bin eingerostet. Ich habe ein Imperium regiert und den Planeten gerettet und Max’ Zimmer aufgeräumt und so. Du solltest mir vier Steine vorgeben.«
»Nichts zu machen. Mit vier Steinen kannst du jeden schlagen. Theoretisch.«
»Echt? Wie viele braucht man, um Gott zu schlagen?«
»Der Weltmeister wäre mit einem Stein gegen Gott beim fünfzigsten Zug im Nachteil.«
»Aha.«
»Ernsthaft.«
»He, weißt du, bei welchem Spiel ich Gott jedes Mal schlagen könnte?«, fragte sie. »Ohne Handicap?«
»Nein, bei welchem?«
»Feige!«
»Was meinst du?«
»Na, wenn man mit zwei Autos aufeinander zufährt, du weißt schon. Dieser Junge ist doch in der Einkaufszeile in der Wüste dabei umgekommen, Colonial Gardens. Es war letzten …«
»Ich weiß. Aber was meinst du, wenn du sagst, du kannst Gott dabei schlagen?«
»Wenn einer der Spieler allwissend ist, wie Gott, dann verliert er. Du musst nur fest entschlossen sein, nicht auszuweichen.«
»Warte mal … Gott weiß also genau, dass du nicht ausweichen wirst, also muss er es tun?«
»Genau«, sagte sie.
»Aber Gott ist unverwundbar.«
»Vielleicht. Trotzdem verliert er.«
»Bist du dir sicher?«
»O ja. Das hat man Max beim Logikkurs im Ferienlager beigebracht.«
»Na, dann wird es wohl stimmen«, lenkte ich ein.
»Wir haben früher eine Abart von Feige! gespielt. Wir standen auf einer Mauer und warfen mit Glühbirnen aufeinander, und jedes Mal traten wir einen Schritt zurück. Hast du das je gespielt?«
»Weiß du, ich hatte da gesundheit... äh, nein. Wir spielten immer Escondidas … «
»Was ist das?«
»So was wie Verstecken.«
»Ach so.« Sie blickte auf das Brett und sah dann wieder zu mir hoch. »Hast du je Zeitmaschine gespielt?«
(7)
»Zeitmaschine?« , fragte ich. »Nein, ich glaube nicht …«
»Also, das geht so: Ich sitze an dieser Stelle in meinem Zimmer … so.« Sie schloss die Augen und verschränkte die Arme. »Und ich markiere den genauen … nein, warte, zuerst lege ich die zweite Seite von Taking Tiger Mountain (By Strategy) auf, dann präge ich mir das Datum und die genaue Uhrzeit ein, und dann sitze ich so ruhig, dass die Zeit stehen bleibt. Dann beschließe ich, dass ich in genau zwanzig Jahren, auf die Sekunde genau, an der gleichen Stelle in der gleichen Haltung mit der gleichen Musik sitzen und genau das Gleiche denken werde, und dann ist es, als wäre alles, was dazwischenliegt, nie geschehen.«
»Oh.« Ich hatte geglaubt, sie meinte irgendein Brettspiel aus Plastik von Ideal oder dergleichen. »Ja, ich glaube schon, dass ich so was mal gespielt habe.«
»Echt?« Marena hielt einen Stein in der Hand, setzte ihn aber nicht.
»Ja. Im Prinzip. Ich habe aber schon lange nicht mehr daran gedacht. Dabei glaubte ich immer, ich wäre auf die Idee gekommen.«
»Vielleicht haben wir es uns beide ausgedacht«, erwiderte Marena. Sie setzte
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