2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
müsste. Und dass er – oder sie – jemand sein könnte, den ich kannte. Nicht unbedingt von Angesicht zu Angesicht, hatte sie gesagt – oder? –, aber vielleicht jemand, den ich über andere kannte, oder vom Telefon, was bedeutete, dass es einer der Warren-Leute sein konnte. Es bedeutete jedenfalls, dass ich nichts verraten würde, ehe ich mir meiner Sache sicher war.
Ich bat um einen Spiegel, doch sie sagten, sie wollten sehen, wieich mich bewegte, ohne mithilfe eines Spiegels meine Motorik zu korrigieren. Scheiße, ich konnte mir nicht mal die Zähne richtig putzen. Ich bohrte mir die Bürste in die Wange und spuckte vor fremden Leuten, was ich sonst nie tue, und mich störte auch nicht der Geschmack nach Myrrhe, der zu dem Schrecklichsten gehört, was die Welt zu bieten hat. Die Zahnbürste hielt ich wie einen Bleistift. Und wieso benutzte ich eigentlich meine rechte Hand? Ich nahm immer die linke. Ich war Linkshänder. Hatte der Transfer etwa meine Polarität umgekehrt, als wäre ich ein Dilithiumkristall? Aber das konnte nicht sein. Das BTP reichte nicht so tief; es transferierte nur die Erinnerungen. Vielleicht betrachtete ich mich in einem Spiegel. Ja, das musste es sein. Ich kniff die Augen zu und bürstete wieder drauflos. Nichts. Das gleiche Gleich. Ich spuckte aus. Ich spülte nach. Ich trank einen Schluck. Ich betastete meinen Kopf. Natürlich war er rasiert, und überall steckten kitzlige Elektroden. Dann ergriff jemand meine Hand, ehe ich noch mehr umhertasten konnte.
»In ein paar Minuten nehmen wir sie ab«, sagte Lisuartes Stimme. »Bitte berühren Sie sie jetzt nicht …«
»Jed? Hast du irgendwelche Fragen?«, fragte Marenas Stimme. Diesmal kam sie von hinten.
»Ja«, krächzte ich. »Hat Kamsky beim WCC gegen Anand gesiegt?« Meine Stimme klang seltsam. Sie war sehr heiser, was darauf hindeutete, dass ich lange Zeit unter Narkosegas gestanden hatte. Das wirklich Komische war allerdings, dass sie einen schwereren Akzent aufwies. Ein Yukateko-Akzent? Er ist kaum hörbar, aber trotzdem …
»Ich sehe mal nach«, sagte Marenas Stimme.
»Sind wir am Stake?«
Lisuartes Stimme schien zu zögern, aber ich stellte mir vor, wie Marena sie ansah, als wollte sie fragen: Wer ist hier der Boss? Einen Schlag später antwortete die Ärztin: »Nein, wir sind in Holopaw.«
»In Holopaw?«
»Genau.«
»Sie meinen, wie in Balam … äh, Cat Lake?« Cat Lake war ein winziges Nest ungefähr dreißig Kilometer südöstlich von Orlando.
»Richtig«, sagte sie.
»Kamsky hat fünfeinhalb zu sechseinhalb verloren«, sagte Marena. »Laut Website der Chess Federation.« Sie war in mein Sichtfeld getreten, aber sie trug eines dieser tuntigen Haarnetze, dazu eine OP -Maske mit Mikrofon und Ohrhörer, und das wenige, was ich von ihrem Gesicht sehen konnte, zeigte einen lustigen pulvrigen Lavendelton. Es musste an der OP -Beleuchtung liegen.
»Jed?«, sagte Marena.
»Ja?«
»Du musst dich einen Augenblick konzentrieren.«
»Okay«, sagte ich. »Kein Problem.« Verdammt, es war nicht nur der Akzent, meine Stimme klang fremd. Ich habe eine tiefe, gebieterische Stimme, die nicht zu meiner charmanten, wenig bedrohlichen physischen Erscheinung passt. Jetzt aber sprach ich in der Stimmlage eines Tenors. Im Rückblick hätte ich natürlich längst kapieren müssen, was geschehen war. Aber selbst wenn man der vernunftbetonteste Mensch weit und breit ist – für den ich mich angesichts der Konkurrenz tatsächlich hielt –, solche Dinge werden einfach abgestritten, das geht ganz von selbst. Nicht dass viele Leute »solche Dinge« je erlebt haben, aber wenn man einen Arm verliert, kann es Tage dauern, bis man wirklich begriffen hat, dass es passiert ist. Oder wenn man eine bestimmte Art von Schlaganfall bekommt, tritt man vielleicht nie wieder mit der betroffenen Körperhälfte in Kontakt, aber bis zu dem Tag, an dem man stirbt, wird einen niemand davon überzeugen können. Verleugnung ist nicht nur der Ventura Freeway von Ägypten, er ist der Grundzustand der Mehrzellerexistenz.
»Okay, ehe wir irgendetwas anderes machen, sollten wir die wichtigsten Algorithmen und Prozeduren des Menschenspiels durchgehen – du weißt schon, des Stadtspiels.«
Ich nickte. Woher wissen sie vom Menschenspiel?, fragte ich mich. Hatten sie mich irgendwie dazu gebracht, im Schlaf zu reden? Natürlich hatten sie mich verkabelt bis zum Gehtnichtmehr, aber so spezifisch konnten sie mich nicht auslesen. Oder doch? Nein, niemals.
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