2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
werden.
Endlich gingen sie. Weil die Tür offen war, sah ich, dass wir uns in der pathologischen Abteilung befanden. In der Wand war ein nicht zu öffnendes Quadrat aus unzerbrechlichem »Glas«, durch das man auf einen »Hof« sah, der aus sechzigerjahremäßigen weißen Ziegelmauern bestand, die mit Klimaanlagen übersät waren. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich erkennen, dass über und unter uns Stockwerke waren. Meiner Schätzung nach befanden wir uns in der fünften Etage.
Ich war groggy, und mein Schritt begann zu schmerzen. Am ganzen Leib hatte ich Stichwunden. Und natürlich wurde ich sorgsam bewacht. Sie ließen mir nicht mal ein eigenes Netphone oder einen Laptop, nur von Warren genehmigte Versionen, unmöglich zu demontieren und mit aller möglichen Nannyware vollgestopft.
Die SBS -Leute hatten den gefangen genommenen Leibwächter verhört, um zu erfahren, ob Jed 1 irgendetwas gesagt hatte. Außerdem hatten sie das Boot gestürmt und nach Hinweisen durchsucht. Nachdem sie die Festplatten ausgelesen und die Crew ausgequetscht hatten, standen sie trotzdem mit leeren Händen da.
Na, schauen wir mal, dachte ich. Das Ende der Welt wird das genaue Gegenteil zum Theaterdonner der Jerry-Bruckheimer-Version darstellen. Es wird kein einziges Feuer geben, keine Explosionen, keine kenternden Flugzeugträger und keine Städte, deren Gebäude bis zum 30. Stockwerk überflutet werden. Das Ende der Welt wird das Sinnbild des Unspektakulären sein. Es wird nur einen Sekundenbruchteil dauern. Und niemand wird es bemerken.
Hmm. Also …
Ohne dass Jed 1 uns sagte, was er gemacht hatte, konnten wir nicht einmal wissen, ob der letzte Dominostein nicht verfrüht kippte, zum Beispiel in diesem Augenblick. Wir wussten es nicht.
Und woher wussten wir, dass dieser Augenblick nicht der letzte wäre? Dass wir schon in zwei Sekunden nicht mehr existierten und niemand merkte, dass es uns nicht mehr gab?
Ich versuchte, jede Sekunde, die verging, als kleinen Sieg zu betrachten.
Wir drehten uns im Kreis.
Einmal sagte ich: »Am ehesten wird es so sein, wie wenn etwas die Aufmerksamkeit ablenkt von dem, woran man gerade noch gedacht hat, und man vergisst, was es war.«
Taro sagte: »Es wird nicht nur nicht wehtun, wir bemerken es nicht einmal.«
»Aber jemand auf Io, der die Erde beobachtet, würde es bemerken«, entgegnete ich. »Allerdings würde er nach ein paar Stunden ebenfalls verschwinden.«
Das Gespräch hatte schon etwas Eigentümliches an sich: Wir überschlugen uns, um etwas aufzuhalten, das wir gar nicht bemerken würden, wenn es geschah.
Taro sagte: »Wir werden es wissen, wenn wir es aufgehalten haben. Aber wenn wir es nicht aufhalten, werden wir es niemals erfahren.«
»So eine Art physikalisches Gegenstück zu fleischfressenden Bakterien.«
»Hmm?«
»Das Strangelet wird eine bestimmte Wahrscheinlichkeitdichte erreichen, und dann saugt es einfach alles auf – dich, mich, den Grand Canyon, den Jupiter, den Pferdekopfnebel, die Sombrero-Galaxie, die Roy-Rogers-Kometensphäre, einfach alles.«
»Nein, nein«, erwiderte Marena. »Das kaufe ich euch nicht ab. Was immer Jed 1 getan hat, es wird nicht alles in die Luft jagen, das wäre absurd.«
»Nein, du liegst falsch. Es wird das Universum nicht sprengen, es wird es einsaugen. «
Ohne die Ressourcen der Warren Group machten Marena und ich uns an die Arbeit, die Domino-Kaskade zu identifizieren. In der Hoffnung, das Opferspiel würde weiterhelfen, hatte Marena acht volle Dosen Tzam lic auf die Station geschmuggelt. Und als kleinen Bonus Kleenex-Tücher, die mit Extrakten der Tzam-lic-Tiere aus meinem Grab getränkt waren, in Ziploc™-Beuteln. Wie Marena an diese Dinge herangekommen war, fragte ich nicht, denn aus Furcht, abgehört zu werden, sprachen wir nicht über so etwas, aber Marena hatte viele Gefallen einfordern müssen, um an die Substanzen zu gelangen. Ich versteckte das Zeug unter meiner Matratze.
In der ersten Nacht verbrauchte ich zwei Dosen und folgte Jed 1 ’ letztem Hinweis. Nach etlichen Fehlstarts erkannte ich Muster, die womöglich Ereignisabfolgen in der Domino-Kaskade sein konnten. Überraschenderweise – oder vielleicht auch nicht, wenn man bedachte, wer die Kette in Gang gesetzt hatte –, scharten sie sich um Begebenheiten, die mit der Warren Group in Zusammenhang standen. Das Opferspiel war mir eine große Hilfe bei der Anwendung der vielen Codeknackprogramme, die man heute bekommen kann, und es war nicht allzu schwierig, in
Weitere Kostenlose Bücher