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202 - Unter schwarzer Flagge

202 - Unter schwarzer Flagge

Titel: 202 - Unter schwarzer Flagge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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nach dem Blondzopf offen. Er umrundete die Deckaufbauten der Schelm, sah in jede Ecke, atmete die kühle Nachtluft ein, schaute dem Mann im Krähennest zu und versuchte mit dem Rudergänger zu kommunizieren, was daran scheiterte, dass diesem die Zunge abhanden gekommen war.
    Bei der zweiten Runde sah Matt auf dem Achterdeck den ihm aus Alunga bekannten Mönch an der Reling stehen. Er verharrte mit einem stummen Fluch. Möglich, dass auch Blondzopf nicht weit war. Was sollte er nun tun?
    Sollte er den Mönch warnen – und damit den blinden Passagier verraten? Keine gute Idee. Aber vielleicht konnte er sich mit dem Mann unterhalten und herausfinden, ob er Feinde hatte – vorzugsweise fünfzehnjährige Mädchen mit langen Zöpfen und Messern.
    Matt räusperte sich.
    Der Mönch fuhr herum.
    Matt hatte angenommen, dass er blind war, doch dies erwies sich als Irrtum: Zwar war das linke Auge des Mannes schneeweiß und tot, doch das andere musterte ihn in einem fast unirdischen Feuer.
    »Guten Abend«, sagte Matt höflich. »Ich bin Matt Sparrow, einer der neuen Haudegen.«
    »Zwischen den wogenden Nebeln des Daseins liegen Tod und Zeit«, erwiderte sein Gegenüber. »Abstrakte Begriffe aus irdischer Welt werden traumgeborene Wirklichkeit.«
    »Klar.« Matt nickte. Er bedauerte es schon, den Mann angesprochen zu haben. Im 20. Jahrhundert hatte an jedem Tresen der Welt mindestens eine solche Type gestanden.
    Warum begegnete ausgerechnet immer er durchgedrehten Schwafelköpfen?
    »Hand in Hand schreiten sie fließend und starr durch das Tal der Wandlungen«, sagte der Mann mit der Kapuze und deutete zum Himmel hinauf. »Untrennbare Hände umschlingen ihre Göttlichkeit…«
    »Sowieso.« Matt überlegte, wie er sich mit Anstand von hier entfernen konnte.
    »Gemeinsame Pfeiler stehen im großen Welttheater der Ordnung… Gnadenlose Allväter… Der Kosmos weicht zurück… Wogende Himmel… Machtlos gewordene Barrieren.« Der Mann legte eine Hand auf Matts Unterarm und schaute ihn intensiv an. »Niemand sieht, was ich sehe, Matt. Das wahre Gesicht Gottes…« Er deutete erneut auf den Himmel. »Er sieht aus wie ein gigantisches hellgrünes Licht… da und dort ist es leicht gebogen… wie ein Schwanenhals.« Er nickte und drückte Matts Arm. »Tränen schrumpfen im Bewusstsein des Endes… Zerfallendes Gebein… Geborstene Kuppeln. Ausgebrannte Ruinen. – Und außer mir sieht keine Sau was davon.«
    Er wandte sich wieder der spiegelglatten See zu und stützte sich auf die Reling. Matt hörte ihn schwer atmen. Er konnte nichts dagegen tun, aber er musste sich schütteln.
    »Wie heißt du noch mal?«, fragte der Mann nun mit klarer Stimme und drehte sich um.
    Matt wiederholte seinen Namen.
    »Ich bin Yann… Yann Haggard.« Er streckte eine Hand aus.
    Matt schüttelte sie. »Auch bekannt als der irre Yann.« Er kicherte.
    »Bist du mit dem Kapitän verwandt?«, erkundigte sich Matt.
    Yann nickte. »Ich bin sein verrückter Bruder.« Er deutete auf sein weißes Auge. »Dieses Auge sieht Dinge, die kein anderes sieht«, murmelte er. »Früher habe ich immer gesagt, wer Visionen hat, soll zu einem Medikus gehen. Heute sehe ich es anders. Ich sehe all das Zeug erst, seit das Ding hinter meinem toten Auge lauert.« Er drehte sich zu Matt um. »Ich kann helles Licht nicht mehr ertragen. Deswegen geh ich nur noch nachts ins Freie.«
    Matt stellte sich neben Yann an die Reling. Er wusste nicht genau, was er von ihm halten sollte, aber irgendwie war er interessant. »Was ist das für ein… Ding?«, fragte er. »Hinter deinem Auge, meine ich…«
    Yann krächzte, als sei seine Kehle trocken. »Es ist vermutlich ein Parasit. Er pulsiert. Er nimmt Einfluss auf mein Denken und meine Sehkraft. Die Medicae in Nerland wissen nicht, was es genau ist, aber sie nehmen an, es ist was Organisches. Etwas, das ein Insekt in mir abgelegt hat, und das mich nun von innen her auffrisst. Ein mutiertes Ei vielleicht.«
    Matt musste sich erneut schütteln. Welch grauenhafte Vorstellung! Doch dann fiel ihm etwas anderes ein: Vor ewigen Zeiten – in einem anderen Leben – hatte er einen Piloten der US Air Force aufgrund urplötzlich auftretender Kopfschmerzen und Sichtprobleme in die Bundeswehrklinik nach Koblenz geflogen. Diagnose: Tumor.
    Heutzutage wusste vermutlich auch in Nerland kein Heiler mehr, was das war.
    »Wie sieht der Einfluss auf, den er auf dein Denken nimmt?«
    Yann lachte leise. »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, was mein Bruder sagt,

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