202 - Unter schwarzer Flagge
Fünfte, holte ein Hemd des Verschwundenen aus dessen Kajüte. Chira eilte vom Bug zum Heck, pirschte durch alle Niedergänge, Decks und Unterkünfte, die Ewijk je betreten hatte, schnüffelte in sämtlichen Laderäumen und blieb irgendwann ratlos mittschiffs an der Reling stehen.
»Man könnte fast annehmen, er sei über Bord gesprungen«, sagte Rulfan.
Matt wusste zwar nichts vom Schicksal des Matrosen, erkannte aber eine Gelegenheit, das verschwundene Beiboot logisch zu erklären, bevor wieder die Sprache darauf kam:
»Vielleicht ist er ja mit dem Dingi abgehauen«, warf er ein.
»Warum sollte ein Seemann mitten auf dem Meer von seinem Schiff desertieren?«, fragte Rulfan.
Haggard lachte bellend. »Ewijk ein Seemann? Er war eine erbärmliche, von Seekrankheit geplagte Landratte!« Er schaute sich um, und sein Blick fiel auf Vanduyn und die anderen.
»Wie die meisten Offiziere Ihrer Majestät hat auch er sein Patent gekauft.«
Die Offiziere blickten verlegen zu Boden, und Matt fragte sich, ob er richtig gehört hatte. Wenn Ewijk ein Offizier Ihrer Majestät war, was waren dann Haggard und die anderen?
»Er ist vermutlich desertiert.« Vanduyn nickte. Es schien ihm wichtig, das Thema abzuschließen.
»Und aus welchem Grund?«, fragte Rulfan.
»Weil er ein Charakterschwein war, wie die meisten Landratten, die sich ein Offizierspatent erkaufen!« Haggard winkte ab. »Sparrow hat mich überzeugt. Der Fall ist erledigt! Vergessen wir diesen Weichling, dem eine schöne Uniform wichtiger ist als die salzige See und ein zünftiger Sturm. Gehen wir unserem Dienstplan nach!«
Die Offiziere strömten murmelnd auseinander. Dass sich kein Widerspruch regte, lag wohl daran, dass Haggards höhnische Behauptungen sie trafen.
Rulfan und Matt gingen in die Messe, wo Matt seinen Blutsbruder über das in Kenntnis setzte, was ihm in den letzten Nächten widerfahren war – speziell in der letzten Nacht.
»Das erklärt zwar einiges«, sagte Rulfan, »aber nicht Ewijks Verschwinden. Hältst du es für ausgeschlossen, dass dieses Mädchen ihn getötet und über Bord geworfen hat?«
Matt zuckte zusammen. »Daran hab ich noch keinen Gedanken verschwendet.«
»Traust du es ihr zu?«
Matt zupfte sich an der Nase. »Eigentlich schon.« Er schaute Rulfan an. »Ewijk könnte sie entdeckt haben. Vielleicht als ich in der Kombüse war, um Wasser für sie zu holen.«
»Wenn es so war, werden wir es nicht beweisen können«, sinnierte Rulfan. »Hau dich jetzt erstmal in die Falle. Vielleicht ergeben sich im Laufe des Tages neue Indizien.«
»Aye, aye, Sir.« Matt gähnte herzhaft.
Dann salutierte er und ging in sein Quartier.
***
Auch nach zahllosen Nächten unter freiem Himmel konnte Matthew Drax den gleißenden Gestirnen eine Menge abgewinnen.
Nur wenige Menschen wussten, dass einige der Sonnen dort oben von Planeten umkreist wurden, die Leben trugen.
Nur eine Handvoll wusste, dass auf dem Mars Menschen lebten. Zu diesen Wissenden gehörte Rulfan, der schon zwei Marsianern begegnet war.
Was die Besatzung der Schelm anbetraf, hielten viele die Erde für eine Scheibe und fürchteten über den Rand ins Nichts zu stürzten, wo Orguudoo mit seinen Dämonen auf sie wartete.
Yann war von einem anderen Schlag. Als Matt ihm in der siebenten Nacht ihrer Reise erneut an der Reling begegnete, schien er an der Sternenwelt sehr interessiert zu sein: Er betrachtete sie so konzentriert durch ein Messingfernrohr, dass Matt sich eine ganze Weile nicht mal zu räuspern wagte.
Irgendwann ließ Yann das Fernrohr sinken und schaute Matt an. »Es lebe die Zeit…«, sagte er. »Das Morgenrot… die Ewigkeit…«
Matt nickte. »Nix dagegen.«
»Die Unerbittlichkeit der Nebel«, fuhr Yann fort. »Ewiger Staub verweht… Keine Räder ticken mehr… Der steinige Weg… Irgendwann wird der Nebel schwinden. Dann bricht die Ewigkeit an…« Er seufzte. »Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Es strömt einfach aus mir heraus.«
Matt starrte ihn an. Es war gespenstisch.
»Meist nehme ich es nicht wahr«, sagte Yann. »Manchmal merkt sich mein Bruder, was ich sage, und erzählt es mir, wenn ich wieder da bin.« Er zuckte die Achseln. »Ich nehme an, der Parasit drückt auf mein Hirn. Er will sich mir – oder der Welt – mitteilen, aber mein Geist kann sein Sinnen nicht in Worte kleiden, die verständlich sind. Wir leben in verschiedenen Welten.« Er deutete zum nächtlichen Himmel hinauf. »Schau, Sparrow! Siehst du es?«
Matt schaute
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