2022 - Para-City
ließ. Sie liebte diese Kleidung, weil sie bequem war, nirgendwo zwickte und sie nicht einengte.
Sie hätte gern an dem fröhlichen Treiben draußen teilgenommen, doch sie konnte nicht. Nach einiger Zeit raffte sie sich auf und ging zu dem Container hinüber, in dem ein junges Paar einen improvisierten Alkoholausschank eröffnet hatte. Vor dem Container drängten sich zahlreiche Mutanten, die den Getränken eifrig zusprachen. Bei ihnen war die Stimmung womöglich noch ausgelassener, wenngleich von anderer Art.
Hegrim Mihori hatte Durst. Sie wollte sich nicht betrinken, aber sie hatte sich in letzter Zeit bei Getränken auf Wasser beschränkt. Jetzt hatte sie Appetit auf ein kühles Bier, ein Getränk, das sie ohnehin liebte und das auf ihren Hüften bereits seine Spuren hinterlassen hatte.
Doch kaum war sie vor die Tür getreten, als eine junge, rothaarige Frau zu ihr kam und sie ansprach. „Hegrim, wir brauchen deine Hilfe", sagte sie. „Was kann ich für dich tun?" erwiderte die sanfte Riesin ohne großes Interesse. Sie wollte entspannen, wollte mit sich allein sein und hatte keine Lust, für irgend jemanden dazusein. „Das kann ich dir nur schwer erklären", versetzte die Rothaarige. „Bitte, komm einfach mit. Es ist nicht weit."
Lustlos gab Hegrim Mihori nach und folgte der jungen Frau, die sich als Vera vorstellte, etwa fünfzig Meter weit zu einem großen Wohncontainer. Im Inneren kauerten zwölf junge Männer und Frauen, von denen keiner älter als 22 Jahre war, auf ihren Gepäckstücken. In einer Ecke schliefen zwei etwa acht oder neun Jahre alte Kinder auf Ruhepolstern. Sie waren die einzigen, die einen ruhigen und entspannten Eindruck machten, während die älteren Mutanten geradezu erstarrt wirkten. Sie waren kreidebleich, einige zitterten, als ob sie frören, und alle blickten starr ins Leere.
Der Lokvortherin waren nie zuvor Menschen begegnet, die ein derartiges Maß an Hoffnungslosigkeit erkennen ließen. „Was ist mit ihnen?" fragte sie. „Sie haben sich aufgegeben. Sie werden mit dem Gedanken an einen nahen Tod nicht fertig."
Die sanfte Riesin konnte sie verstehen, erging es ihr doch kaum anders. Normalerweise hätte jeder von ihnen eine Lebenserwartung von rund 200 Jahren gehabt. Jenseits der 200 kam irgendwann der natürliche Tod. Für einen zwanzigjährigen Menschen war dieses Ereignis so fern, daß er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, selbst einmal so alt zu sein und dann vom Ende betroffen zu sein. Junge Menschen kamen sich unsterblich vor.
Für Menschen in ihrem Alter war der Tod noch nicht existent. Das Leben erschien übermächtig und voller schier unerschöpflicher Reserven, so daß der Gedanke an den Tod einfach nicht real werden wollte. Wurde der Gedanke aber dennoch erzwungen, allein durch die Tatsache, daß sie alle Monochrom-Mutanten waren, löste er einen schweren Schock mit unterschiedlichen Auswirkungen aus. Bei dieser Gruppe hatte er zur Apathie geführt.
Hegrim Mihori sah ein, daß sie helfen mußte. Sie ließ sich auf den Boden sinken und richtete ihre ganze Suggestionskraft auf die Männer und Frauen im Raum. Sie versuchte, ihnen Hoffnung zu machen und ihnen zu vermitteln, daß keineswegs alles verloren war. Sie durften nicht aufgeben, sondern mußten ihre ganze Kraft aufwenden, um nach einem Ausweg zu suchen.
Hegrim war die stärkste Suggestorin in Mor Jueglo, und es gelang ihr, zu den Angesprochenen durchzudringen und ihnen Mut zu machen. Sie erwachten allmählich aus ihrer Starre. Hier und da zeigte sich bereits ein scheues Lächeln. „Ich komme später noch einmal zu euch", versprach Hegrim Mihori. „Jetzt muß ich zur Ratssitzung. Sie warten bestimmt schon auf mich."
Der alte Mann erschauerte. Er hatte das Gefühl, eine Geisterstadt verlassen zu haben, eine Stadt, die von Menschen bezogen worden war, die nur hierhergekommen waren, um in diesem einsamen Hochgebirgstal auf ihren Tod zu warten.
Ramon Alvarez bestieg den vollgepackten Gleiter, den man ihm zur Verfügung gestellt hatte, und ließ diesen sanft in die Höhe schweben. Er blickte auf die Straßen von Mor Jueglo hinab, beobachtete dabei, daß die neuen Siedler in vielen Teilen der Stadt ausgelassen tanzten. Viele hatten Musikinstrumente mitgebracht, spielten darauf und steigerten mit ihrer Hilfe die ausgelassene Stimmung.
Der alte Mann verfolgte die Szene, und ihm schien, als seien manche der lachenden Gesichter von tiefem Ernst geprägt. Der Widerspruch schien nicht zu der Szene zu
Weitere Kostenlose Bücher