2030 - Chimaerenblut
Für einen kurzen Moment stand sie auf der Flosse, ihre Haare flatterten im Wind. Dann breitete sie die Arme aus, sprang kopfüber ins Wasser und tauchte sofort ab.
Josi kreuzte vor der Küste und behielt dabei die Außenanleger Dubais im Blick. Die Skyline erhob sich hinter dem Strand wie ein künstlicher Fels, so dicht standen die Hochhäuser. Es gab einige Weltstädte mit imposanten Bauten, aber Dubai übertraf sie alle. Selbst hier draußen, zehn Meilen von der Küste entfernt, waren die Türme der Scheichs zu erkennen. In der Ferne erhob sich titanisch der Burj Khalifa, der nach dem Geldgeber und Herrscher des Nachbaremirats von Abu Dhabi benannt worden war. Die spitz zulaufende Säule überragte die übrigen Gebäude noch einmal um Hochhauslänge.
Ethan müsste jetzt in der Bank sein. Josi schaltete den NanoC , den er ihr gegeben hatte, ein und atmete tief durch. Die Glasfassaden der Hochhaustürme flirrten in dem gleißenden Licht der heißen Nachmittagssonne. Tiefes Blau spannte sich wie eine Kuppel über den Himmel. Diese Metropole zeigte sich beinahe ewiglich unter einem wolkenlosen Firmament. Josi fragte sich, in welchem der vielen Türme und Zwillingstürme Ethan wohl gerade war.
Die Sonne brannte ihr im Nacken. Mit dem NanoC in der Hand tauchte sie ab und drehte über dem Meeresgrund eine Schleife. Ein kleiner Ammenhai suchte im Zickzack das Weite. Das Display am NanoC leuchtete grün auf. Hastig schoss sie nach oben und nahm das Gespräch an.
Ethans Gesicht erschien im Display. Er stand vor einer blauen Glasfassade und grinste. »Honey?«
»Ja.«
»Alles in Ordnung. In bin bereits am Steg zu unserer Yacht. Das Geld müsste innerhalb der nächsten Stunde auf dem Konto sein. Euch viel Glück!« Er hob seinen NanoC so, dass sie ihn gut sehen konnte und warf ihr einen Kuss zu. »Wann sehe ich dich wieder?«
»Du weißt doch, ich mache nur Überraschungsbesuche«, wich sie aus und lächelte in die Minikamera ihres NanoCs . Eine Frau mit Sonnenhut und weißem Kleid ging an ihm vorbei und rief seinen Namen.
Plötzlich riss Ethan die Augen auf, sein Gesicht verzerrte vor Schmerz, und die Kamera drehte sich zum Himmel. »Hilfe. Jooosi ...«, röchelte er. Das Kamerabild wackelte. Sein Gesicht erschien kurz im ruckelnden Display, und Josi sah, dass er am Hals blutete. Er wollte noch etwas sagen, aber dann fiel sein Kopf zur Seite und die Kamera filmte in schneller Abfolge Hochhäuser, Yachten und schließlich den Boden.
»Ethan! Ethan?«, schrie Josi, doch sie bekam keine Antwort.
Im Lautsprecher hörte sie die fremde Frau kreischen. »Oh mein Gott, ist er tot? Er ist tot. So viel Blut.«
In Josis Kopf pochte das Blut, ein heftiger Schmerz riss durch ihr Inneres, sie begann zu zittern. Obwohl das Meer warm war, fror sie plötzlich. Das Wasser zog ihren Körper nach unten. Sie sank Richtung Grund. In der Dunkelheit der Tiefe blitzte eine Erinnerung an die erste Begegnung mit Ethan am Flughafen von Chicago auf. Er stand lächelnd in der Sonne.
Sie japste, hustete und schrie.
Dann tauchte sie auf. »Ethan!«, schrie sie. Ihr Schrei verlor sich in der Weite des Meeres. Was habe ich getan? Sie tippte auf die Tasten des Displays – den Zoom – nichts. Nur grauer Asphalt. Hektische, fremde Stimmen drangen an ihr Ohr. »Haben Sie … den Schützen gesehen? … Wo bleibt …« Dann heulte die Sirene eines Polizeiautos auf – offenbar bereits sehr nah. Oder war es ein Krankenwagen? Plötzlich filmte die Kamera an Ethans Handgelenk die Straße, Beine, einen weißen Rock, ein Geländer, im Hintergrund Wasser, eine dunkelblaue Horizontlinie, Himmel. »Ich kann den Puls nicht fühlen… Hier nimm mal!« Die Bilder wechselten jetzt noch schneller. Jemand hatte die Kamera vom Handgelenk genommen. Josi wollte etwas sagen, aber aus ihrer Kehle kam kein Ton. Dann war das Bild plötzlich leuchtendgrün und wechselte auf Dunkelblau. Die Kamera war ausgeschaltet.
Josis NanoC glitt aus der Hand. Das Stand-by-Lämpchen blinkte für einen kurzen Moment und verschwand dann in der lichtlosen Tiefe des Meeres. Josi machte eine halbe Drehung mit ihrem Rumpf, ließ die lang gestreckten Arme auf die Wasseroberfläche klatschen. Die Schwanzflosse wirbelte durchs Wasser und schob den Körper mit der Geschwindigkeit eines Schnellbootes raus in die Weite des Persischen Golfs.
Wie jeden Abend ging die Sonne glutrot im Meer unter, und Josi hatte das Gefühl in Blut zu baden. Sie griff sich an den Kopf und streifte die nassen
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